Michi, der traurige Geist. Angelika Nickel
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Heruntergelassene Rollläden hatten sich bereits verselbstständigt und preschten knarrend und ächzend, mithilfe von Heinz-Günthers Windgebläse, durch die leeren Gassen der Stadt.
Aufgewirbelter Sand sammelte sich in den toten, ausdruckslosen Augen der Fenster, und in den einsamen und leer stehenden Häusern.
Nichts deutete mehr auf die schöne Stadt hin, die Ghostwishtown einst gewesen war. Lachen und Freuden waren aus ihr vertrieben, und für immer verstummt.
Doch einmal im Jahr erwachte die verlassene Stadt erneut wieder zum Leben.
Am Tag von Halloween.
Wäre sie in der Lage gewesen, Freudenschreie von sich zu geben, sie hätte diesen Tag bejubelt, vor Glück, und dabei auch noch laut gelacht.
Sie hätte die Häuser aufgefordert, zu tanzen; und dabei hätte sie die Gebäude durch die Luft gewirbelt, aus lauter Freude, endlich wieder lebendig zu sein, feiern zu dürfen, auch, wenn es nur für eine einzige Nacht sein sollte. Am liebsten wäre es ihr gewesen, hätte sie auch Farmen durch die Lüfte zwingen können, wenn es sein musste, bis hin nach Kansas; wie es mit dem Haus von Dorothy im The Wizzard of Oz geschehen war.
In der Nacht zu Halloween jedoch, ging mit der toten Stadt Merkwürdiges vor sich. Die Häuser erstrahlten urplötzlich. Die verwitterten Fassaden zeigten sich in den buntesten Farben, als wären sie erst vor Kurzem, frisch gestrichen worden.
Alleine in der Lage zu sein, sich zu erneuern, und sei‘s auch nur für diese eine Nacht, gab der Stadt das Gefühl des Zufriedenseins.
Sie war getragen von dem Bewusstsein, erneut zum Leben erwacht zu sein.
Fühlte, dass ihre Häuser wieder schön, und mit lebhaftem Treiben erfüllt waren, wie in einer längst vergangenen Zeit, der sie täglich aufs Neue nachtrauerte.
Doch nicht nur Ghostwishtown war traurig, dass die Stadt eigentlich ausgestorben und tot war; ein Schicksal, das sie bereits seit vielen Jahren zu tragen hatte.
Derart traurig war sie, dass die wenigen Rollläden, denen es gelungen war, sich gegen Heinz-Günther zu erwehren, ständig in jämmerlichem Weinen gegen die Fenster schlugen und dabei das fürchterliche Geräusch leidender Rollladenklagen von sich gaben. Ohrenbetäubendes Klappern war die Folge davon.
Doch nicht nur die Stadt, die Häuser und Fenster waren traurig und litten. Nein, es gab noch jemanden, dem die Tränen im Gesicht gestanden wären, hätte er weinen können. Wobei, eigentlich konnte er schon weinen, nur eben nicht immer.
Michi, ein kleiner Geisterjunge; auch er war traurig.
Auch er weinte lautlos seinen Schmerz heraus. Der kleine Geist weinte keine Tränen, zumindest keine, wie Menschen sie weinten.
Seine Tränen waren für das Auge unsichtbar, wie es auch der Geist war.
Wehklagte er, weinte er auch gleichzeitig. Und das wiederum hörte sich jämmerlich an.
Nur wussten die Wenigsten, wenn sie ihn hörten, sofern sie ihn überhaupt hören konnten, dass es ein unglücklicher kleiner Geist war, der da weinte.
Ein mancher hörte ihn sogar, nur hielt er es meist für irgendein komisches Geräusch von irgendwoher; und machte sich auch weiter keine Gedanken darum; was den kleinen Geist noch trauriger werden ließ, und er erneut drauflosplärrte. Derart jämmerlich heulte er in diesen Augenblicken, dass es einem das Herz zerrissen hätte, hätte man erahnt, von wem das das herzzerreißende Weinen kam.
Da jedoch niemand den kleinen Geist wahrnahm, wussten die Wenigsten, dass ein verlassener und einsamer Geist unsichtbare Tränen vergoss.
Die meisten Menschen hielten sein Weinen für das Rauschen von Blättern. Doch da irrten sie. Derart laut, wie Michi weinte, so laut waren die Blätter keineswegs in der Lage, ihr Rauschen ins menschliche Ohr fließen zu lassen.
Der kleine Michi weinte und weinte. Mitunter schrie er sein Weinen heraus, dass er das Gefühl hatte, als wollte sein Weinen, ihn zerreißen; sein Schmerz ihn in Stücke reißen. Sein Weinen, dieser leere Schmerz, der sich in ihn eingegraben hatte, er machte ihn zu dem unglücklichsten Geist, den es in der Geisterwelt jemals gegeben hatte.
Dieser unendliche Schmerz in seinem Geisterinnern, der ihn aufzufressen drohte, und immer mehr von ihm Besitz zu ergreifen schien. Fast war es, wie heiße Lava, die alles mit sich riss, das den Weg in den heißen Lavastrom fand.
Es schien beinahe, als wollte dieser Schmerz den traurigen kleinen Geist übernehmen, bis am Ende gar nichts mehr von dem kleinen Michi übrig geblieben sein würde.
Wieder schnäuzte Michi sich. Mit dem Hemd wischte er die Tränen fort. Jene Tränen, wie sie für den kleinen Geist normal waren. Seine Geistertränen, eben.
Michi war traurig. Unendlich traurig; auch drüber, dass er ein Geist sein musste. Er war so lange schon ein Geist, dass er gar nicht mehr wusste, wie lange es her war, seit er dazu geworden war. Das unglückliche Kerlchen wusste auch nicht mehr zu sagen, wie es überhaupt dazu gekommen und, wodurch er zu einem Geist geworden war.
Er war einfach eines Morgens aufgewacht und war er ein Geist.
Von heute auf morgen war’s geschehen. Urplötzlich, ohne, dass ihm zuvor davon etwas gesagt worden war. Nein, noch nicht einmal gewarnt, hatte man ihn.
Eines Morgens gab es nur noch ihn. Ihn Michi, den kleinen Geisterjungen, der von einer Sekunde zur anderen, völlig alleine war.
Niemand war mehr da, den Michi kannte. Seine Eltern, sie waren weg, verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Der erinnerungslose Geist wusste noch nicht einmal, ob er überhaupt Eltern gehabt hatte. Doch wie hätte er es auch wissen sollen, so völlig ohne jegliche Erinnerung.
Sein Geistergedächtnis setzte erst ab einem bestimmten Augenblick ein. Alles, an das sich der kleine Geisterjunge erinnerte, war nebelig und unscharf, und weit mehr als verschwommen. Wenn er nachzudenken versuchte, was ihn selbst stets erheblich durchsichtig werden ließ, tauchten immer wieder die gleichen Bilder vor seinem Geisterauge auf. Viele waren es ohnehin nicht. Erneut zwang er die Bilder in seine Erinnerung …
… Michi fand sich mitten im Wald wieder. Seine Kleidung war zerrissen und völlig durchnässt, seine Hände verschrammt. An den Füßen war er barfuß. Irgendwo musste er sein Schuhwerk verloren haben. Aber wo? ...
Dies Wenige war alles, was sich dem Geistchen offenbarte. Nicht genügend, um herauszufinden, wer er war, oder, von woher er kam. Noch, dass er wusste, wer seine Eltern waren. Oder, ob er überhaupt welche hatte.
Michi hatte schon davon gehört, dass es Kinder gab, die elternlos waren und deswegen in Waisenhäusern leben mussten. Waisenkinder.
Ob auch er ein Waisenkind war?
Doch wie sehr er sich auch mühte und anstrengte, die Erinnerung war schmal, und nur wenig davon, drang an die Oberfläche.
Seine nackten Füße waren meist das Letzte, das er in der Lage war, in seine Erinnerung zurückzuzwingen.
Von daher irrte Michi seit jenem Erwachen,