Die Beichte meines Großvaters. Klaus Werner Hennig
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Am nächsten Tag hätte ich einen guten Grund gehabt, meinen Großvater nicht zu besuchen. Ich sollte auf Dienstreise in eine andere Stadt, bat aber meinen Chef, für einige Zeit nur am Ort tätig sein zu dürfen, denn auf meine Art war ich meinem Großvater sehr verbunden. Mein erstes Angelzeug habe ich von ihm, den Unterschied zwischen Knüttepfriem und Knüttespune zum Netzflicken, sowie zwischen Flügelreuse und Ballreuse für den örtlichen Fang von ihm gelernt, einen Fischhälterkasten aus Eichenholz hat er mir gebaut und aus Weidenruten einen Aalkorb geflochten, mit dem ich allerdings niemals auch nur einen Aal erwischte. Der Wels, den mein Großvater einst aus dem Wasser gezogen haben wollte, wurde in seinen Erzählungen von Jahr zu Jahr größer und schwerer. Trotzdem, vom Angeln und Fischen wusste er eine Menge von seinem Großvater wiederum, der noch Fischer in Ketzin im Havelland gewesen war. Außerdem hat mein Großvater mir Rad fahren, Skat dreschen, Pokern und, was meine Eltern bis heute nicht wissen sollten, vorzeitig Auto fahren beigebracht. Schließlich hatten wir gemeinsam eine richtige Höhle gebaut, in der ich fast aufrecht stehen konnte. Davor kauernd las er mir aus Robinson Crusoe und aus Der Schatz im Silbersee vor, und wenn ich etwas in der Nachbarschaft ausgefressen oder in der Schule verpatzt hatte, war mein Großvater die von mir bevorzugte Anlaufstelle. Immer stand er mit Rat und Tat für seinen Kleinen parat.
Erleichtert stellte ich fest, meinem Großvater ging es entschieden besser. Er war sogar guter Laune und zu Scherzen aufgelegt. Trotzdem fragte ich ihn unvermittelt, warum er mitgetan habe, türkische Geschäfte in Friedrichshagen zu beschmieren.
„Wie kommst du darauf?“, empörte er sich und richtete sich ruckartig auf. Fast hätte er sämtliche Schläuche und Elektroden abgerissen. Die Kurven auf dem Bildschirm tanzten über die Grenzwerte hinaus, und aus dem Lautsprecher quiekte ein durchdringender Alarmton, der mir gewaltig auf die Nerven ging.
„Ich habe doch dabei nicht mitgetan, nie im Leben!“, ereiferte er sich. „Ich habe lediglich beobachtet, wie Rowdys sich an den Läden zu schaffen machten.“ Versöhnlich legte er sich auf das Bett zurück, atmete aber vergleichsweise unruhig. „Dein Großvater ist doch kein Fassadensprayer!“
„Dann habe ich dich missverstanden, entschuldige Opa“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Aus dem Überwachungssystem tönte kein Alarm mehr.
„Du hast ja recht“, gestand mein Großvater reumütig ein. „Ich habe nichts dagegen unternommen, weder mit meinem Krückstock dazwischen gehauen, noch die Polizei verständigt. Vielleicht habe ich sogar gedacht, weshalb müssen diese Türken den gesamten Obst- und Gemüsehandel an sich reißen und die einheimischen Händler aus dem Markt drängen? Ist das nötig, habe ich gedacht. Und das Bürgerbegehren gegen den Bau einer Moschee in Pankow“, beichtete er kleinlaut und blickte beschämt zur Seite, „habe ich auch unterschrieben.“
Dem wird sowieso nicht stattgegeben, davon war ich überzeugt, es verstieße ja gegen das Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit. Zu meinem Großvater aber bemerkte ich bloß: „Pankow? Wann kommst du denn nach Pankow?“
„Wann komme ich schon nach Pankow“, druckste er schuldbewusst. „Erst missfällt einem das Äußere, wie sie sich kleiden, dann ihr Gehabe, wie sie sich geben, dass sie nach Knoblauch riechen, unter sich bleiben wollen, nur ihre Sprache sprechen, ihre Geschäfte machen, ihresgleichen bevorzugen, sich Gotteshäuser wie Paläste bauen – dann sollen sie runter von den Bürgersteigen, dürfen in kein Kino, kein Theater mehr hinein, nicht mit der Straßenbahn fahren, nicht in den Parkanlagen sitzen, die Wälder nicht mehr betreten, und schließlich“, mein Großvater richtete sich auf und hob warnend die Hand, „brennen ihre Bücher, ihre Läden, ihre Moscheen und schlussendlich sie selbst am eigenen Leib. Genauso ist es gewesen, ich habe das erlebt! Und so käme alles wieder, wenn nicht ...“
„Aber Opa, was redest du da?“ Ich schaute ihn vorwurfsvoll an.
„Wie neulich in Rheinsberg“, fuhr er unbeirrt fort. „Eine Gruppe Jugendlicher vorm Dönerstand, der Rädelsführer beißt in sein Döner Kebap, greift sich zum Mund und zieht einen Rattenschwanz an zwei Fingern zwischen seinen Zähnen hervor. ‘Der Türke verfüttere Rattenfleisch an uns Deutsche!’, schrie der Taschenspieler den Passanten zu, beugte den Oberkörper weit nach vorn und schien sich zu erbrechen. Seine Kumpane machten die Wurstbude binnen Minuten platt, schlugen den armen Mann, der eine Frau, vier Kinder, seine Mutter und eine Schwester zu versorgen hat, krankenhausreif! Die Leute starrten vernarrt, als sähen sie einen Kinofilm und keiner rief die Polizei!“
Jetzt dreht er völlig durch, befürchtete ich, legte ihm meine Hand leicht auf den Mund, gebot ihm zu schweigen. Das Überwachungssystem flackerte und gellte in einer Tour. Kommt denn hier keiner?, wollte ich aus dem Zimmer über den Flur schreien.
„Du siehst zu schwarz, Opa“, versuchte ich ihn zu beruhigen, gab ihm zu trinken. Er schluckte gierig, als wäre er am Verdursten. „Mit Gammelfleisch wird heutzutage allerorten Schindluder getrieben“, gab ich zu bedenken.
„Nein“, flüsterte er ermattet, „eine alte Frau bezeugte bei der Polizei, der Rechtsradikale habe sich den Rattenschwanz aus seinem Ärmel gezogen.“ Ich spürte, mein Großvater wollte mir so viel sagen, aber mir wäre lieber, er bliebe gelassen im Bett liegen und spräche jetzt über nichts, was ihn aufregen könnte.
„Nimm Schwester Ayrun, die mich betreut, eine Kurdin aus der Türkei, als Beispiel.“ Sein Blick verschleierte sich, als verstiege er sich in jugendlicher Schwärmerei zu einer Madonna, die ihn bekehrt habe. „Eine so klare und reine Seele“, himmelte er weiter. Mein Großvater, ein alter Mann, wie peinlich.
„Ist das nicht ein christliches Krankenhaus?“ – Ich wollte seinen Enthusiasmus dämpfen. – „Schließlich liegt auf deinem Nachttisch das Neue Testament, über deinem Bett hängt ein Kreuz, im Flur sind Sprüche aus der Bergpredigt und dich betreut eine Muslima? Das glaubst du doch selber nicht?“
„Aber sicher! Wahrscheinlich arbeitet sie kostengünstiger, kriegt womöglich nur den halben Lohn“, vermutete mein Großvater und versuchte mir zu verdeutlichen, wie liebe- und hingebungsvoll nur sie alte Menschen bei aller Hektik und Routine dieses Hauses pflege und behandle.
Da kam die besagte Schwester Ayrun zur Tür herein. Na klar, die gestrenge, dunkelhaarige Schönheit. Ich sah sie nun mit anderen Augen. Sie entschuldigte sich, es wären zwei Neuzugänge zu versorgen gewesen. Sie wusch meinen Großvater im Gesicht, am Hals, unter den Achseln; die Brust, den Bauch, zwischen den Beinen, alles sehr behände, trotzdem gründlich und trocknete ihn sorgfältig ab; auch die Füße. Er gab sich willig der Behandlung hin, als genösse er sie nahezu erotisch, ließ sich ohne Gezeter die Zahnprothese aus dem Munde nehmen, die restlichen Zähne putzen, die Haare bürsten, die Ohren säubern, den Rücken mit Franzbranntwein abreiben. Ich wollte ihr dabei helfen. Sie wies mich dankbar lächelnd ab, es sei ihr Job, aber sie lobte mich sehr, weil ich täglich meinen Großvater besuchte. Das wäre in Deutschland leider nicht alltäglich, sagte sie ohne Häme. Ich nickte und hatte die Hoffnung, mein Großvater werde bei dieser Pflege das Krankenhaus baldigst verlassen können. Fast bedauerte ich dies.
Nach Mitternacht klingelte das Telefon. Schwester Ayrun teilte mir mit, mein Großvater sei soeben verstorben. Allah war ihm gnädig, sagte sie so selbstverständlich, dass ich nicht widersprach.
Er lag friedlich im Bett, die Schläuche und Elektroden waren entfernt, die Augen geschlossen, die Hände mit dem Kreuz von der Wand über der Brust gefaltet. Ich schob eine weiße Rose aus unserem Garten unter die Hände. Als ich ihn andächtig auf die Stirn küsste,