Der exzentrische Maestro Carl. Cristina Zehrfeld
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Als wir schon weit, sehr weit gefahren waren, fragte mich Maestro Carl mit sanfter Stimme: „Ach, habe ich Ihnen überhaupt schon gesagt, dass wir heute nicht zurückfahren? Wir werden in E. übernachten.“ Nein, er hatte es mir nicht gesagt. Aber was soll’s. Nun wusste ich es ja. Gut, ich war auf eine mehrtägige Reise nicht vorbereitet. Ich hatte nichts, rein gar nichts eingepackt. Keinen Laptop, keinen Fotoapparat, keine Sonnenbrille, kein Moskitonetz, nicht einmal genügend Geld. Von Wechselwäsche oder einer Zahnbürste ganz zu schweigen.
Doch das alles war völlig unerheblich, denn ich war die Reisebegleitung des einmaligen, außerordentlichen Maestro Carl. Allerdings übernachteten wir dann eben nicht nur die nächste Nacht in E., sondern die übernächste Nacht dann eben auch gleich noch in K.. Ich war also tatsächlich mit Haut und Haar in der großen, weiten Welt des Glamours angekommen. Ich führte drei Tage lang das unglaubliche Leben eines weltgewandten Bohemiens.
So etwas geht nicht spurlos an der heimatlichen Enge eines normalen Sterblichen vorüber. Und ich bin ein normaler Sterblicher. Zu Hause hatte deshalb mein Anrufbeantworter während meiner Abwesenheit längst wegen Überfüllung schließen müssen. Mein Kater Wollmütz hat Asyl bei einer Nachbarin beantragt (Das Bewilligungsverfahren war bei meiner unvermuteten Rückkehr noch nicht ganz durch). Die Lokalpresse hat mehrere, fest eingeplante Artikel nicht von mir bekommen, so dass zwei Ausgaben beinahe mit sehr viel Freiraum für Notizen erschienen wären. Außerdem haben zwei meiner besten Freunde eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgegeben. Aber wie wenig Bedeutung hat das alles: Ich durfte mit Maestro Carl zu einem seiner Konzerte fahren.
4. Geschüttelt. Nicht gerührt.
Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Besondere Menschen auch. Maestro Carl ist ein besonderer Mensch. Deshalb erfordert seine Anwesenheit immer besondere Maßnahmen. Manche Leute wollen das nicht sofort einsehen. Ich selbst hatte auch meine liebe Not. Ich wusste es vorher nicht, aber in vielen Dingen bin ich ein hoffnungsloser Opportunist, ein Jasager, ein linientreuer Dulder.
Mein Weltbild hat jedoch deutliche Risse bekommen, als ich Gelegenheit hatte, Maestro Carl öfter zu erleben. Die grundlegende Lebensmaxime des Maestros hat sich mir schließlich bei einem der zahlreichen gemeinsamen Gaststättenbesuchen erschlossen. Anfangs waren mir die sehr aufwändigen Bestellrituale des Maestros etwas unangenehm gewesen. Ich bin auch in diesem Punkt sehr bieder. Wenn ich etwas essen will, dann bestelle ich, was auf der Karte steht, und basta. Wenn auf der Karte Reis mit Thunfisch angeboten wird und Spagetti mit Bolognese, dann nehme ich entweder Reis mit Thunfisch oder Spagetti mit Bolognese. Maestro Carl würde so schlicht nicht denken. Er würde überlegen, ob eventuell Reis mit Bolognese nicht die bessere Variante ist, oder vielleicht Reis mit Spagetti. Deshalb habe ich während solch eines Gaststättenbesuchs, genauer während des Bestellrituals begriffen: Nichts auf Gottes weiter Welt ist für Maestro Carl unabänderlich. Dies gilt für ihn in allen Lebenslagen. Ganz besonders aber gilt es für Speisekarten.
Eine Speisekarte ist für den Maestro keine Übersicht, welche Speisen in einem Lokal angeboten werden, sie ist ein Vorschlag. Sie ist prinzipiell kein akzeptabler Vorschlag, aber immerhin einer, über den zu reden der Maestro willens ist.
Nicht willens ist er, etwaige Vorlieben des Kochs auszulöffeln. Deshalb stellt der Maestro sein Menü prinzipiell selbst sorgfältig zusammen. Von dem einen Gericht die grünen Klöße, vom anderen die vegetarische Soße, vom dritten schließlich die Erbsen. Er bestellt Linseneintopf ohne Speck, Zwiebelsuppe ohne Zwiebeln und flambierte, alkoholfreie Banane. Bei Maestro Carls ausschweifender Recherche zur exakten Herkunft etwaig angepriesener Waldpilze ist schon mancher Kellner völlig grundlos dem Wahnsinn verfallen.
Neulich hat Maestro Carl zu meiner Überraschung ganz einfache Rühreier bestellt. Fast ganz einfache Rühreier. Ich dachte trotzdem, dass das nicht klappt. Aber er hat sie bekommen, seine Rühreier. Dies, trotz der ausdrücklichen Anweisung: Ich hätte sie gern geschüttelt, nicht gerührt.
5. Fahrstuhl zum Schafott
Maestro Carl ist ein gläubiger Mensch. Deshalb will er dem Himmel ganz nahe sein und muss ganz weit oben wohnen. Wenn es eine Anhöhe in der Stadt gibt, muss das Haus des Maestro auf dieser Anhöhe stehen. Wenn das Haus siebzehn Etagen hat, kann des Maestros Wohnung in keiner Etage unterhalb der ACHTZEHNTEN Etage liegen. Das Haus, wo ich ihn besuchte, hatte vier Etagen. Eine Treppe führte nicht in diese schwindelerregende Höhe. Dafür gab es eine Klingel inklusive Sprechanlage. Dort nahm ich die Anweisung des Maestros entgegen: „Kommen Sie zum Fahrstuhl.“
Kein Problem. Ich hatte den Hausflur auf der verzweifelten Suche nach einer Treppe bereits inspiziert. Ich wusste um den Fahrstuhl, und ich wusste, dass ich ihn nicht in Gang zu setzen vermag, weil für das Betreiben ein Fahrstuhlschlüssel vonnöten ist. Ich ging also zum Lift und wartete. Ich lief hin und her, und her und hin. Es dauerte. Vermutlich hatte der Maestro überraschend noch einen Anruf bekommen und konnte nicht weg, dachte ich, obwohl der Maestro sonst während eines Telefongesprächs freilich immer im Haus unterwegs ist. Manchmal geht er auch in die Pizzeria gegenüber während eines Gesprächs und wundert sich über die nachlassende Qualität der Verbindung.
Ich war gerade wieder ein ganzes Stück hergelaufen, als der Fahrstuhl ruckelte. Ich lief schnell hin. - Er war nicht angekommen. Er war abgefahren. Jetzt wartete ich direkt vor der Fahrstuhltür, denn der Maestro musste jeden Moment kommen. - Dachte ich. Aber er kam nicht. Erst zehn Minuten später, als ich bereits wieder mit Hin- und Herlaufen beschäftigt war, polterte des Maestros Stimme empört. „Wieso stellen Sie sich nicht in den Fahrstuhl?“ In den nächsten Minuten begriff ich, dass die Anweisung, „kommen Sie zum Fahrstuhl“, nicht mehr und nicht weniger beinhaltet, als: „Gehen Sie zum Fahrstuhl, treten Sie hinein und beten Sie, dass ich den Fahrstuhl samt Insassen in mein Reich rufe.“ Öffnen lässt sich die Fahrstuhltür nämlich ohne Spezialschlüssel. Alle Gäste des Maestro begreifen das sofort. Alle außer mir, denn ich lebe sonst ja nicht in der großen Welt, sondern in einem kleinen Dorf. Selbst in den wenigen, in den Himmel ragenden Zweigeschossern unseres Ortes sind Fahrstühle einfach nicht üblich. Deshalb war dieses Ereignis erst meine zweite Berührung mit einem Fahrstuhl. Die erste hatte ich im Dorfkino. Gezeigt wurde damals der Krimi „Fahrstuhl zum Schafott“.
6. Die Perlen des Soprangesangs
Einmal saß ich mit Maestro Carl an seinem Computer. Selbstverständlich hatte der Maestro wieder keine Minute zu verlieren, denn der Schreibtisch bog sich unter den Bergen an Arbeit. Außerdem mussten Briefe geschrieben, Konzertdaten eingegeben und Telefonate erledigt werden. Trotz dieser Fülle an unaufschiebbaren Terminsachen hatte sich der Maestro für diesen Abend zusätzlich noch das schier Unmögliche vorgenommen: Er wollte mich für die besten Sopranistinnen unserer Zeit begeistern, und er wollte, dass ich künftighin jederzeit erkenne, ob da gerade Jessye Norman singt oder Edda Moser oder gar Birgit Nilson. Er nahm seinen Bildungsauftrag an mir sehr ernst. Dabei hatte ich ihn keineswegs ermuntert, in mir etwas anderes zu sehen, als einen höchst unmusikalischen Menschen. Genau genommen bin ich nicht nur unmusikalisch, sondern darüber hinaus ein Kulturbanause ohnegleichen, denn ich bin kein Freund des Gesangs, und daher ist es mir völlig schnuppe, ob da nun gerade Maria Callas singt oder aber