Die Beere. Jan Nadelbaum
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Jan Nadelbaum
Die Beere
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Inhaltsverzeichnis
I.
Lange hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Immer wieder gab es Phasen der Funkstille zwischen ihnen, obschon beide keineswegs als ungesprächig bezeichnet werden konnten. Nur miteinander, das wollte manchmal nicht so laufen. Meistens machte Max nach einiger Zeit wieder den Anfang. Paul tat sich damit schwerer. Bisher war es ohnehin erst einmal zu einem Treffen gekommen, nachdem sie sich monatelang Nachrichten geschrieben hatten. Man war irgendwann – beide kannten den genauen Tag nicht mehr – über eine Kontaktbörse aufeinander aufmerksam geworden, hatte sich sympathisch gefunden und schließlich eben ein Kennenlernen vereinbart. Danach ging es auf und ab. Max war in Urlaub gefahren.
Paul schlurfte zum Briefkasten. Werbung. Rechnungen. Eine Postkarte. Er blickte auf die Rückseite und musste lächeln. Eine schöne Schrift. Viele Schnörkel.
Er ging zurück ins Haus und fuhr seinen Rechner hoch. Es dauerte nicht lange, und er hatte „Danke für die Karte“ geschrieben. Nicht mehr und nicht weniger. Er wartete. Was könnte er tun? Er müsste eigentlich an seiner Abschlussarbeit weiterschreiben. Mehr für die Uni als für sich. Er hatte keine Lust. Das Wetter war schön. Er würde schon etwas finden, mit dem er sich die Langeweile vertreiben könnte. Das mit der Abschlussarbeit hatte sicher noch Zeit, für ihn sowieso – wenn nicht für ihn, für wen sonst?
Er lebte nach wie vor bei seinen Eltern, studierte Chemie, wusste aber, dass er nie ein herausragender Chemiker würde. Unten im Haus rumorte es. Vermutlich seine Mutter. Paul seufzte, schaute auf den Bildschirm, dann zum Fenster, stand auf und beobachtete die Amseln auf dem Rasen.
Zur selben Zeit saß Max im Zug nach Hause. Sein Kurzurlaub hatte ihm vorzüglich gefallen. Er selbst kam vom Land, liebte Städte und musste als Germanistikstudent natürlich einmal im Leben nach Weimar. Das Flair dieser kleinen, doch aufgrund ihrer kulturellen Vergangenheit derart bedeutenden Stadt beseelte sein Gemüt so sehr, dass ihn der schnarchende Dicke neben ihm kaum störte. Wenn er bloß nicht immer durch den Mund ausatmen würde. Das halbe Abteil glotzte alle zwei Minuten, wenn außer dem muffigen Atem auch noch dieses langgezogene Brrr der aufeinandergepressten Lippen durch den Wagen wanderte. Max sah kurz verlegen auf und wandte sich erneut seinem Buch zu, Kellers ‚Kleider machen Leute‘.
Gegen Abend war er heimgekehrt. Er überprüfte sein Postfach. Neben vielen anderen eine Nachricht von Paul. Max freute sich und war zugleich enttäuscht darüber, dass es nur zu einem „Danke für die Karte“ gereicht hatte.
„Bitte. Wie geht’s dir? Was machst du?“
Erfahrungsgemäß dauerte es nie lange, bis Paul antwortete. Max konnte sich nicht genau erklären, wie er das vollbrachte. Er nahm an, dass Paul jede Viertelstunde seinen Posteingang kontrollierte, anders wäre es nicht möglich. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
„Danke. Gut.“
„Nicht gut drauf?“
„Doch.“
„Mhmm… hab einen anderen Eindruck. Bin vorhin aus meinem Urlaub zurückgekommen.“
„Ein Aufenthalt in Deutschland ist für mich kein Urlaub.“
„Was denn dann“, Max spürte, wie er langsam sauer wurde. So viel Undank! Er hatte an Paul gedacht, ihm eine Karte geschrieben und jetzt diese motzigen Antworten… Zugegeben, die Karte hatte fünfzig Cent gekostet, die Briefmarke fünfundvierzig, allerdings, wie wusste schon Lessing? – Der Wille und nicht die Gabe macht den Geber!
„Griechenland, Jamaica, Italien.“
„Und warum nicht Deutschland?“
„Weil mich Deutschland nicht interessiert. Ich will andere Kulturen kennen lernen.“
„Aber man sollte doch auch als Deutscher sein Land ein wenig kennen…?“
„Ich bin aber kein Deutscher.“
„Ja, Russe, ich weiß. Du widersprichst dir gerade.“
„Tu ich gar nicht.“
„Sicher. Ist mir jetzt irgendwie zu viel Kindergarten…“
„Du bist doch hier kindisch.“
Max begann sich aufzuregen. Sollte er sich von Paul sagen lassen, was Urlaub ist und was nicht und dass das, was er gemacht hatte, nicht als Urlaub bezeichnet werden kann?
„Bist du eigentlich so garstig, weil ich damals nicht mit dir ins Kino wollte?“
„Nö.“
„Ich habe halt ’ne Stunde Fahrtzeit. Wir können gerne mal ins Kino gehen, wenn’s Semester wieder losgeht und ich in der Stadt bin…“
„Nö.“
„Sollen wir uns denn überhaupt noch einmal sehen?“
Bei dieser Frage rann Paul ein Lächeln über die Wangen. Es passte zum Sonnenschein und den warmen Temperaturen draußen. Max wollte ihn also nochmals sehen. Er zeigte Interesse. Das schmeichelte ihm. Umworben zu sein – ist das nicht ein herrliches Gefühl? Eines der Sorte, die man nicht mehr gerne hergibt, wenn man sie einmal fühlt und so antwortete Paul: „Vielleicht.“
„Du musst doch wissen, ob du mich wiedersehen willst oder nicht!?“
„Muss ich das?“
„Was machst denn im Moment“, versuchte Max sich an einer Entschärfung des Geschreibes.
„Nix. Müsste eigentlich mit meiner Abschlussarbeit anfangen. Hat Zeit, denk ich. Du?“
„Sitze ab morgen an meiner letzten Hausarbeit. Wenn ich die habe, kann ich meine Abschlussarbeit in Angriff nehmen.“
Max überkam bei diesem Satz zum einen Erleichterung, dass er es endlich gepackt hatte, zum anderen Schwermut, dass er aus dem ihm nun seit fünf Jahren Vertrauten plötzlich