Für immer Rosa. Claudia A. Wieland
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Die schreckliche Verzweiflung und der abgrundtiefe Schmerz waren von Jahr zu Jahr weniger geworden. Er wäre fast zu einem emotionalen Fossil geworden, gefühlsmäßig vollkommen versteinert, teilnahmslos, vielleicht sogar zynisch, wäre da nicht dieser allgegenwärtige, dumpfe Schmerz geblieben, diese Wehmut, weil er die große Liebe seines Lebens nicht hatte leben dürfen. Dieser Schmerz hielt seine Seele ironischerweise am Leben.
Warum kamen gerade jetzt die Erinnerungen wieder? Nach so langer Zeit? Er hatte sich in all den Jahren so sehr davor gefürchtet, dass sie ihn wieder überfielen und dann quälten wie damals, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Aber seltsamerweise konnte er sie heute Nacht aushalten, wurde er nicht durch ihre Wucht niedergedrückt. Hatte das seltsame Mädchen etwas damit zu tun? Das Mädchen, dessen Energie ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde gestreift hatte? Das hatte ihn einerseits erschreckt, andererseits aber auch auf eine unerklärliche Art getröstet. Er hoffte jetzt sogar, die junge Frau noch einmal wiederzusehen.
14. Kapitel
Der alte Mann auf der Bühne hatte graues, schütteres Haar und ein aschfahles Gesicht. Die blauen Augen schauten mit einem leicht überraschten, aber außergewöhnlich wachen Ausdruck durch die Gläser einer dunklen Hornbrille. Die ausgebeulte Hose sowie die graue Strickweste über dem Hemd mit speckigem Kragen waren altmännermäßig derangiert. An den Füßen trug er karierte Filzpantoffel.
Der Alte verbeugte sich ungewöhnlich tief, während das Publikum tobte. Der Applaus wollte heute einfach kein Ende nehmen.
Als ob es ihm peinlich wäre, den ganzen Erfolg für sich einzuheimsen, winkte er seine Kollegen, einen nach dem anderen, zu sich auf die Bühne und dankte jedem einzelnen mit einem angedeuteten Händeklatschen.
Die Schauspieler fassten sich an den Händen, traten an den Bühnenrand und verbeugten sich wieder und wieder. Dann ließen sie ihn, dem der Löwenanteil der Publikumsgunst gehörte, wieder allein, damit er seinen Triumpf auskosten konnte.
Jetzt begann das Publikum seinen Namen zu skandieren.
Er legte beide Hände auf sein Herz, um seine Zuneigung und tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Er breitete die Arme aus, als wolle er alle Zuschauer in diesem Theater umarmen. Er hatte den Mund leicht geöffnet und den Unterkiefer ein wenig zur Seite geschoben. Und dann trat ein verlegenes Lächeln auf sein Gesicht, das ganz deutlich zeigte, das ihm seine Macht über die Menschen überhaupt nicht bewußt war. Aber sein Charisma, das nicht von dieser Welt zu sein schien, hatte die Kraft, den ganzen, großen Saal bis in den entferntesten Winkel zum Erstrahlen zu bringen.
Als der Applaus schließlich abebbte und sich der Vorhang schloss, eilte Tom in seine Garderobe. Er war sehr erschöpft nach einer Vorstellung, die ihm allabendlich einiges abverlangte, denn er spielte viele verschiedenartige Szenen aus dem Leben des Helden, beginnend mit einem verführerischen Enddreißiger und endend mit einem gezähmten, ein bisschen müden Endsechziger.
Tom tauschte die Bühnenkleidung gegen seine verwaschenen Jeans, die Sneaker und seine alte Lederjacke aus. Dann verließ er das Theater durch den Hinterausgang. Perücke und Maske hatte er nicht abgelegt. Er wußte nicht so recht, warum. Vielleicht, um seine Wirkung außerhalb der Mauern des Theaters zu testen? Oder vielleicht doch eher, weil er sich hinter der Maske verstecken und andere unbemerkt beobachten wollte? Möglicherweise die junge Frau, falls sie wieder auftauchte?
Tom betrat sein Restaurant und verzog sich sogleich an einen Tisch in der hintersten Ecke des Dining Rooms. Er legte das Drehbuch, in dem er jeden Abend las, vor sich auf den Tisch, schlug es auf und warf einen Blick hinein.
»Was soll diese lächerliche MASCARADE, Monsieur SAVAAAAAGE? Wollen Sie vielleicht Ihre Zeche von gestern prellen? Inkognito speisen?«
Tom erschrak, schaute auf und sah in das beleidigte Gesicht von Armand. Wie immer sprach der Oberkellner Toms Nachnamen nicht britisch nüchtern, mit kurzen Silben aus, sondern französich elegant, aber mit einem hochnäsig langgezogenen VAAAAAGE.
»Das können Sie vergessen, Monsieur Savaaaaage. Mit dieser komischen, alten Lederjacke à la James Dean. Ihrem sogenannten Markenzeichen.« Er schniefte verächtlich. »Da erkennt Sie doch sofort jeder. Sogar ein blinder Maulwurf.«
Maulwürfe sind nicht blind, wollte Tom erwidern, aber da warf Armand die Speisekarte mit einer wegwerfenden Handbewegung, die in einen äußerst eleganten Schwung mündete, vor ihn auf den Tisch und stapfte hocherhobenen Hauptes davon. Man hatte ihn unterschätzt. Das war eine Todsünde.
Tom bestellte bei der unscheinbaren Aushilfskellnerin einen Salat und ein Glas Rotwein, aß hastig den kleinen Imbiss und dachte wehmütig an das höfliche Personal in Paimpol. Trotzdem musste er amüsiert vor sich hinlächeln. Armand war immer so erfrischend direkt. Das schätzte er an dem Franzosen.
Armand hatte ja ganz Recht. Das war gründlich daneben gegangen. Was hatte er sich nur bei diesem blöden Versteckspiel gedacht? Immer dann, wenn ihn eine Frau mehr als interessierte, dachte er sich so eine idiotische Maskerade aus. Früher verglich man ihn wenigstens mit dem obercoolen Giganten Dean. Aber heute… heute hatte er sich mal wieder zum Affen gemacht. Hoffentlich tauchte das Mädchen jetzt nicht wirklich auf. Vor Scham würde er im Boden versinken.
Schnell beglich er die Rechnung und verließ den Ort seines Debakels. Als er sich schon ein ganzes Stück auf der Straße entfernt hatte, drehte er sich noch einmal um und sah, wie die junge Frau die Tür zum Restaurant öffnete, um hineinzugehen. Jetzt bedauerte er aufrichtig, ihr an diesem Abend nicht als Tom Savage entgegengetreten zu sein.
XXX
Am folgenden Abend ging Tom nach der Vorstellung wieder in sein Stammlokal. Dieses Mal ohne Maske. Als er das Restaurant betrat, schweifte sein Blick über die anwesenden Gäste und sofort fand er den Blick des fremden Mädchens. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte seinen Mund. Schnell wandte er sich ab und steuerte auf seinen angestammten Tisch zu.
Dieses Mal aß er in aller Ruhe. Er lag auf der Lauer, wartete ab, was diese seltsame, junge Frau machen würde.
Aber sie machte nichts, schaute ihn nur an. Mit diesem merkwürdigen Ausdruck in den Augen. Vor ihr auf dem Tisch lag ein Reiseführer von London. Sie war wahrscheinlich eine Touristin, dem Aussehen nach eine Französin. Er würde es herausfinden.
Nachdem Tom bezahlt hatte, steuerte er scheinbar zielstrebig auf die Tür zu. Er ging an ihrem Tisch vorbei, spürte ihren Blick. Was wollte sie? Warum tat sie nichts, sagte nichts? Hielt ihn nicht auf? Kurz vor der Tür machte Tom unvermittelt eine Kehrtwendung und ging direkt zu ihrem Tisch.
»Hallo! Mein Name ist Tom Savage«, sagte er betont locker. Als wüsste sie nicht, wer er war, dachte er spöttisch. So, wie sie ihn die ganze Zeit angeschaut hatte. Aber er war bereit, das Spiel mitzuspielen. Er wollte wissen, warum sie eine solche Wirkung auf ihn ausübte, dass er eine halbe Nacht in der Stadt herumlief. Und ihre Augen faszinierten ihn. Zugegebenermaßen. »Ich spiele hier in der Nähe Theater. Habe den Reiseführer da vor Ihnen auf dem Tisch gesehen. Sind wohl zu Besuch hier?! Kenne ich Sie von irgendwoher?«
»Hallo! Mein Name ist Marie. Einfach Marie. Und nein, Sie kennen mich ganz bestimmt nicht. Ich komme aus Köln.«
»Köln am Rhein?«, fragte er stirnrunzelnd. Also nicht Frankreich. Die Erinnerung an einen Gesprächsfetzen spukte in seinem Kopf herum. Irgendwie haben