Das Tagebuch. Eckhard Lange

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Das Tagebuch - Eckhard Lange

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immer wieder, nun sind es nur noch die Augen, die lächeln. Müßte mir jetzt nicht eine Erinnerung kommen? Ich habe doch auch einmal so dagesessen, vor langer Zeit. Warum verschwimmen die Bilder immer wieder, kaum daß sie aufgetaucht sind! Wo war das, damals? Der Tisch, der Raum, das Panorama hinter den Fenstern, die Jahreszeit, der Anlaß – nichts lässt sich mehr orten. Und doch habe ich das erlebt, ich weiß es. Nicht nur einmal, sondern oft, sehr oft sogar.

      Vielleicht zerfließen mir die Bilder, weil sich so viele verschiedene mischen! Kränkungen sind immer einmalig, darum scheinen sie so im Gedächtnis zu haften. Glückliche Stunden gab es viele, so viel ist sicher. Aber sie verteilen sich, waren hier und dort, manchmal nur kurz, dann wieder endlos – das alles ist zusammengeflossen im Ungefähren, Ungreifbaren, im Nebel des Vergangenen. Ich hätte es aufschreiben müssen, damals schon, Ort und Zeit, Dauer und Zeugen notieren, damit ich mich noch erinnern kann. Ein nüchternes, pedantisches, akribisches Tagebuch des Glücks – kann es das überhaupt geben?

      Das junge Paar ist gegangen, schwatzend und lachend haben sie den Raum verlassen. Ich hoffe, daß die beiden wiederkommen, vielleicht nicht täglich, aber doch ab und an, damit ich vergleichen kann. Werden auch sie den selben Tisch suchen – jenen Platz, an dem sie doch glücklich waren? Oder ist er ihnen gleichgültig, und später findet ihre Erinnerung dann keinen Halt, weil die Bilder sich mischen? Ich sollte sie darauf aufmerksam machen. Aber sie werden nur lachen, denn das Später ist für sie unendlich weit entfernt.

      6. September

      Jetzt habe ich doch eine Erinnerung dingfest machen können: Die Erinnerung an das Sich-nicht-erinnern. Es ist eine Krankheit, ein angeborener Defekt, das Versagen einer Gehirnfunktion. Ich sehe ein Gesicht, ich kenne es, erkenne es, aber ich weiß nicht, wem es gehört. Warum haben für mich Gesichter nie einen Namen? Und wenn, dann haben sie zwei oder drei, und ich kann mich nicht entscheiden. Sehe ich ein Gesicht, das mir irgendwie bekannt ist, dann verliert es sich in einem Urwald von unbekannten Orten, vergessenem Geschehen, zeitlos und namenlos. Es ist eine quälende Erinnerung an so viele Anlässe, wo Erinnerung ausblieb. Es ist die ernüchternde Geschichte von verpaßten Gelegenheiten, peinlichen Irrtümern, vergeblichem Bemühen.

      Darum kann ich auch Gesichter nicht beschreiben. Niemand könnte ein Bild malen nach dem, was ich zu sagen vermag. Am wenigsten ich selbst. Gesichter bleiben mir fremd, aber sie bleiben nicht unbekannt. Im Gegenteil: Ich kenne jedes Gesicht, irgendwem sieht es ähnlich, oder ist es irgendwer persönlich? Ich weiß es nicht. Nie werde ich es wissen. Wie gut ich einen Menschen auch kennen mag – ist er fort, aus meinem Blickfeld verschwunden, ist auch die Erinnerung an sein Gesicht dahin. Das menschliche Antlitz ist das größte Geheimnis im Leben, weil es stets im Ungewissen bleibt.

      Ich frage mich: Werde ich jenes Paar vom Nachbartisch erkennen, wenn es nicht dort sitzt, sondern woanders? Wenn es gar die Straße entlangkommt, den Bus besteigt, mich im Theater zwingt, es durch die Reihe zu lassen? Werde ich dann verzweifelt fragen, warum mir diese Gesichter so vertraut sind, ohne daß sie mir ihre wahre Identität offenbaren? Ich sollte heimlich ein Foto von ihnen machen, damit ich es vergleichen kann mit solchen Gesichtern, damit ich mich erinnern kann.

      Wie gut, daß die beiden Alten heute wieder an ihrem Tisch sitzen. Dort gehören sie hin, dort erwartet sie meine Erinnerung. Dort müssen sie schweigen und warten, essen und schweigen. Dort ist ihr Platz. Nicht um ihrer Gewohnheiten willen, sondern allein um meines Gedächtnisses willen. Denn ich weiß jetzt zwar ihren Namen, ich kenne ihren Wohnsitz. Das kann ich notieren, festhalten, auf dem Papier und in den verschlungenen Windungen meines Gehirns. An ihre Gesichter aber werde ich mich morgen schon nicht mehr erinnern können.

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