Nachtwanderung. Susanne Renger
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Susanne Renger
Nachtwanderung
Kurzgeschichten
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Inhaltsverzeichnis
Bunte Blumen
Sie hatten gerade die Wohnungstür geöffnet. Zum Vorschein kam ein kleines Männlein von kompakter Statur, bekleidet mit einem grauen Anzug. Auf dem ersten Blick war nichts Ungewöhnliches an ihm zu entdecken, aber schon bald war ihnen eines ziemlich klar: irgendwas an ihm war seltsam, wahrscheinlich nur eine Kleinigkeit, in der er sich von den anderen Menschen unterschied, die in ihren grauen Anzügen auf den Straßen herum liefen. Über seinem rundlichen Gesicht thronte ein komischer Hut, eine Art Melone, der die selbe Farbe hatte wie seine übrige Kleidung. Hüte, die so aussahen, waren ihnen bisher noch nie untergekommen. Doch um einiges eigenartiger als der Hut selbst war seine Verzierung, klein und unscheinbar, aber sehr bunt. Eine kleine Blume rankte über den Rand und schillerte in allen Regenbogenfarben. Es war wieder einer dieser grauen Sonntage, an denen die Stimmung draußen von einem trüben Licht beherrscht wurde. Und wenn sie es sich recht überlegten, war es immer so, seit in der Regierung ein Machtwechsel stattgefunden hatte. Weshalb, wussten sie nicht. Denn das alles lag nun schon sehr lange zurück. Fröhliche Farben waren seitdem verschwunden. Aber das machte nichts. Sie hatten sich in den vielen Jahren daran gewöhnt. Und nun war da diese Blume. Die kleine Blume am Hut des merkwürdigen Fremden, die vor Intensität geradezu sprühte. Ja, sie schien ein wenig Freude in der tristen und farblosen Welt zu spenden. Nie hätten sie gedacht, dass sie eines Tages mal wieder so etwas Schönes zu sehen bekommen würden. Diese kleine leuchtende Vielfalt zog sie sofort in ihren Bann und ließ sie von da an nicht mehr los. Einst verbot die neue Politik jede Individualität, Häuser und Wände wurden in lieblosem Grau getüncht, und selbst Möbel und Kleidung gab es nicht mehr in anderen Farben zu kaufen. Wohnungen und ihre Besitzer unterschieden sich nicht mehr voneinander, egal ob arm oder reich. Einheitsuniformen machten sich überall breit. Sogar die Natur hatte sich an das Regierungsprogramm angepasst, die Sonne versteckte sich Tag für Tag hinter einem trostlosen Schleier, den sie immer wieder aufs Neue zu durchdringen versuchte. Es gelang ihr jedoch nicht. Der kleine Mann in dem grauen Anzug grinste so breit, dass gewaltige Zähne sichtbar wurden, die von nun an sein Gesicht dominierten. Die winzigen Augen darüber sahen einen aufmerksam und ohne Verlegenheit an. Er verharrte geduldig in seiner Position und rührte sich nicht, bis er sicher sein konnte, dass ihm volle Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das allerdings dauerte diesmal ungewöhnlich lange. Er hatte auch heute seinen Koffer dabei, den er mit der linken Hand fest umklammert hielt. Ja, er würde seinen Siegeszug fortsetzen. Hier in dieser Wohnung, in dieser Familie.
Tausende kleiner Blüten erstrahlten im schwachen Schein des Tageslichts. Sie saßen um den Wohnzimmertisch herum und starrten gebannt auf das Innere des Koffers. Ein Meer leuchtender Farben betörte ihre Augen. Den Fremden beachteten sie schon gar nicht mehr, der es sich ihnen gegenüber in einem großen grauen Sessel bequem gemacht hatte, der ihn zu verschlucken drohte. Er grinste noch immer, so als freue er sich darüber, mit Leichtigkeit sein übles Spiel mit den dummen Mitmenschen treiben zu können. Bisher hatte er nicht viel gesagt, das war auch gar nicht nötig gewesen, denn das, was sie sahen, sprach für sich selbst. Beim Anblick dieser Menschen, deren Gesichter vor Glück strahlten, gewann er mehr und mehr die Überzeugung, dass er es schaffen konnte. Ja, er würde allen Bürgern des Landes die Augen öffnen und am Ende siegen. Er allein würde irgendwann aus eigener Kraft die Großen und Mächtigen stürzen. Auch, wenn darauf die Todesstrafe stand, falls er dabei erwischt würde. Und obwohl ihn manchmal starke Zweifel plagten und ihm plötzliche Angstattacken zusetzten, glaubte er tief in seinem Inneren an die Richtigkeit seines Handelns. Niemand konnte ihn mehr aufhalten. Das Glück der Leute war ihm wichtiger als sein eigenes Leben. Vielleicht gelang es ihm doch noch, eine Welle los zu treten und dadurch Helfer zu finden, die ihn bei seiner Mission unterstützen. Viele Männer konnten mehr bewirken als ein Einzelner. Nach wie vor betrachteten sie die wundervollen kleinen Blumen, die jener am Hut des Besuchers glichen, wie ein Ei dem anderen. Erst, als er sich leise räusperte, richteten sie ihre Blicke auf ihn. Unverändert schmiegte er sich in den großen Sessel und noch immer thronte die Melone auf seinem rundlichen Kopf. Das breite Grinsen jedoch war aus seinen Gesichtszügen verschwunden und einer ernsten Mine gewichen. Mit hoher, näselnder Stimme bot er seine Ware an, anfangs hatte er viel üben müssen, schließlich war er kein Vertreter, der speziell darauf geschult war, den Leuten Dinge zu verkaufen, die sie nicht haben wollten. Die allerschönsten Worte sprudelten aus ihm heraus und nichts schien besser zu sei als eine dieser kleinen Blumen. Er redete und redete, als ginge es hier und jetzt um sein Leben, und irgendwie stimmte das ja auch. „Wenn ihr kauft,“, rief er aus, „werdet Ihr Euch schon bald in einer schöneren und glücklicheren Welt wiederfinden.“. Nur wenige Minuten später verschwand der kleine dicke Mann im grauen Anzug, mit dem Koffer in der linken Hand und dem merkwürdigen Hut auf dem Kopf, und sie sahen ihn nie wieder.
Glücklich und zufrieden betrachteten sie ihre kleine Wohnung. Das Wohnzimmer gefiel ihnen besonders, ohne zu wissen,warum das so war. Irgendwie lag in diesem Raum ein sonderbarer Glanz, der im nächsten Moment wieder zu verschwinden schien. Vom Alltag abgelenkt hörten sie irgendwann auf, sich Gedanken darüber zu machen. Die kleine bunte Blume des dicken Mannes hatten sie zur Dekoration an eine Wand des Wohnzimmers geklebt. Und wie der Raum sich veränderte, so veränderte sie sich auch. Ihre Farben wurden intensiver. Und das geschah ganz allmählich und ohne Hast, sogar so langsam, dass sie es gar nicht mitbekamen. Denn sie waren kaum zu Hause, weil sie tagsüber arbeiteten. Nur ab und zu hatten sie dann doch wieder den Verdacht, dass irgendetwas anders war, besonders abends, wenn sie zurückkehrten. Aber es war jedes mal nichts weiter als ein flüchtiger Gedanke, der so schnell weg war, wie er gekommen war. Somit bemerkten sie auch nicht, dass sie sich selbst veränderten, genau so langsam wie alles andere um sie herum. Im Gegensatz