Der andere Mann. Winfried Wolf

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in der Frank-Kohlhepp-Straße. Seine Zweizimmerwohnung lag in einem Wohnblock für neunzig Parteien.

      Seit zwei Jahren wohnte er hier. Er hätte sich eine größere Wohnung durchaus leisten können, immerhin bekleidete er den Rang eines Majors, aber der Posten bei der Güteprüfstelle der Bundeswehr in Freiburg sollte der letzte in seiner beruflichen Laufbahn sein. Die Beschaffungsbehörde hatte ihn von Koblenz nach Freiburg entsorgt, er war ein Auslaufmodell. Dabei hätte er einmal Karriere machen können aber das hatte sich mit der Auflösung der Nationalen Volksarmee erledigt. Damals wurde ein Drittel der Aktenbestände vernichtet, die Weisung kam von ganz oben, von Rainer Eppelmann, dem damaligen Minister für Abrüstung und Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik. Es ist schon ein Witz der Geschichte, meiner Geschichte, dachte er, dass die noch vorhandenen Materialien gerade in Freiburg eingelagert wurden, hier, wo ich in zwei Monaten in meinen Vorruhestand gehe. Was sagte Maywald zu ihm? Deine besondere Altersgrenze ist die Vollendung des 59. Lebensjahres. Ist doch viel zu früh, meinte der Kollege im Amt. Das stimmt, ich bin noch ganz gut beieinander, aber jetzt ist es an der Zeit, mein drittes Leben in Angriff zunehmen.

      3. Kapitel: Frau Prager geht aus

      Du, es kann später werden, wir gehen anschließend noch zu Gerlinde, ein bisschen Geburtstag feiern. Ja, viel Spaß, ich schlaf‘ dann heute oben, du brauchst also nicht die Schuhe ausziehen, wenn du später heimkommst. Danke Schatz, tschüs! Prager lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und wartete auf das Geräusch der zufallenden Haustür. Er ging hinunter in die Küche, schenkte sich ein Glas Rotwein ein und stieg wieder hinauf in sein Himmelreich. Nach dem Tod der Schwiegereltern, derer von Reitzenstein, gehörte das Dachgeschoß ganz ihm und seinen Büchern. Ein Luxus, dachte er immer, ein Luxus, der mir gar nicht zusteht, das ist mir alles nur für eine Weile geliehen worden.

      Das Dachgeschoß, das Prager gern als sein Himmelreich bezeichnete, enthielt alles, was eine abgeschlossene Wohnung ausmachte, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Küche und Bad. Das sog. Wohnzimmer, so jedenfalls wurde dieses Zimmer auf den Grundrissplänen geführt, war sein Arbeitszimmer. Hier stand ein zweisitziges Sofa, ein kleiner Tisch in der Mitte, ein einladend wirkender Stuhl mit gepolsterter Sitzfläche davor und etwas abseits, damit er auch das Licht vom Fenster erhält, der große Schreibtisch, auf dem die Schulaufgaben und Fachbücher darauf warteten, von ihm bearbeitet zu werden. Den Schreibtisch hatte er von seinem Schwiegervater übernommen, die Füße liefen in Löwenköpfen aus. An einer Stirnseite des Raumes stand ein gediegenes Bücherregal, ausschließlich mit Schulbüchern vollgestopft, die richtigen Bücher fanden sich in der Bibliothek nebenan in einem Zimmer, das der Plan als Arbeitszimmer auswies. Im Wohnzimmer, das jetzt sein Arbeitszimmer war, lag auf dem Boden ein Teppich mit geometrischen Mustern in blassen Farben. Er schuf eine behagliche Atmosphäre, die jedoch nicht über ein Mittelmaß hinausging und er gab gar nicht erst vor, mehr zu sein als er war. Pragers Frau würde diesen Teppich am liebsten entfernen, er passt nicht zum Stil des Hauses, sagte sie, aber Herr Prager will ihn behalten, er erinnert ihn an seine Herkunft. Außerdem denkt er, dass ein einfacher Teppich besser zu einem Gymnasiallehrer passt als ein teurer Abadeh aus dem Iran. Er denkt oft daran, dass er selbst nicht zu diesem Haus passe.

      Ach Unsinn, abschweifende Gedanken sind meist unnütz, zurück an die Arbeit, ermahnte er sich. Ich sollte mir jetzt ein Glas Rotwein gönnen, Schülerarbeiten korrigieren und darüber nachdenken, warum Schüler so wenig mit den Besonderheiten des sozialen Wandels der vormodernen Agrargesellschaft zur modernen Industriegesellschaft anfangen können. Prager las den beigefügten Quellentext zum Bauernkrieg von 1524/25 durch. Der erste der „Zwölf Artikel“ lautete: Zum ersten ist unser diemütig Bitt und Begehr auch unser aller Will und Meinung, daß wir nun fürohin Gewalt und Macht wöllen haben, ein ganze Gemein soll ein Pfarrer selbs erwöhlen und kiesen, auch Gewalt haben, denselbigen wieder zu entsetzen, wann er sich ungebührlich hielt. Derselbig erwöhlt Pfarrer soll uns das heilig Evangeli lauter und klar predigen ohne allen menschlichen Zusatz, Lehr und Gebot. [...]

      Der Lehrer für Deutsch und Geschichte trat ans Fenster, das Weinglas in der Hand und sah hinüber auf die dunklen Höhenzüge, die Littenweiler von Günterstal trennten. Er dachte dabei an die gebeugten Schülerköpfe, die ihm heute den Weg zum Auto versperrten, Gesichter, die jetzt, so stellte er sich vor, noch vom fahlen Licht der Handys angeleuchtet wurden. Es waren die gleichen Gesichter, die ihn während der Unterrichtsstunden blöde anstarrten und ihn mit ihrer maßlosen Interesselosigkeit beständig ans Hinschmeißen denken ließen.

      Er spürte den säuerlichen Geschmack des Weines, kehrte zum Schreibtisch zurück und tat, was Lehrer angeblich immer am liebsten taten, er korrigierte die Auslassungen und Fehler seiner Schüler. Er arbeitete bis in die Nacht hinein, ganz der ordentliche Lehrer, für den er sich so gern ausgab, voller Empathie zu seinen Schülern und doch so streng bei den Jahreszahlen, so unnachgiebig bei den Begründungen und den fachlichen Begriffen. „ Stellen Sie dar, inwiefern es bei diesen Forderungen um eine radikale Infragestellung der damals geltenden Sozialordnung auf dem Land handelte “, lautete Frage 2 auf dem Arbeitsblatt. „ Die Bauern wollten ihren Pfarrer selbst wählen und verstehen, was er ihnen predigt, also kein Geschwafel von der Kanzel. Außerdem wollten die Bauern frei sein, weil keine Obrigkeit über ihnen sein soll als Gott. “ Prager seufzte und schaute nach, welcher seiner göttlichen Schüler hinter dem Geschwafel steckte. Tom Kleiner, hätte ich mir denken können, auch einer von diesen Handy-Idioten.

      Es war schon spät, als er seine selbst auferlegte Pflicht für diesen Tag beendete. Er nahm das Buch über die alten mesopotamischen Zivilisationen mit ins Strohwitwerbett, so hatte es seine Frau einmal genannt, und las dort weiter, wo er sich, einer alten Unsitte folgend, die Buchseite eingeknickt hatte. Das Kapitel, das von den akkadischen Semiten und von deren König Hammurabi handelte, sorgte schon nach vier Seiten für den Entschluss, das Licht zu löschen. Er sah, dass die Leuchtziffern des Radioweckers auf 23.40 Uhr zeigten. Prager drehte sich auf die rechte Seite, seine Lieblingsseite und sah seine Frau im Kreise ihrer Freundinnen und Freunde stehen, lachend, laut und aufgedreht und vielleicht fing sie gerade in diesem Augenblick einen der anwesenden Männer mit ihren Blicken ein. Sie lachte und lachte... Er hörte noch, wie die Haustür aufgeschlossen wurde, aber da war er bereits so gut wie eingeschlafen.

      4. Kapitel: Die unsichtbare Präsenz

      Als er von der Schule kam stand ihr kleiner Audi schon vor dem Haus. Frau Prager hat noch etwas vor, sagte er zu sich und ergänzte, da wird Herr Prager wohl einen ruhigen Nachmittag haben. Hallo Schatz, begrüßte sie ihn in der Diele, dem ehemaligen Wintergarten. Ich hoffe, du hast schon etwas gegessen, aber vom Salat ist noch was übrig. Sie hatte ihre grüne Gartenschürze umgebunden, auf dem Boden sah er ein Dutzend Lavendelpflänzchen in einem Kartondeckel stehen. Die Erklärung folgte sofort. Wenn ich den Lavendel jetzt noch pflanze, kann er in diesem Sommer noch blühen. Kommst du mit mir in den Garten? Ich zeig‘ dir die Stelle, wo ich ihn gern hätte.

      Frau Prager nahm ihrem Mann die Schultasche aus der Hand und zog ihn hinter sich her, hinaus hinter das Haus. Der Lavendel braucht einen sonnigen Platz, belehrte sie ihn. Und windgeschützt sollte er auch sein. Ich hab‘ mir gedacht, an der Hausecke im Südwesten wächst er gut, ist doch Südwesten hier, oder?

      Sie waren an die Rückseite der Villa gelangt, von hier, das war immer das erste, was die Besucher der Pragers feststellten, hatte man einen weiten Blick auf die Landschaft. Ja, das ist Südwesten, bestätigte er ohne teilnehmende Begeisterung, man sieht es am Stand der Sonne. Weißt du, ich hab‘ mir gedacht, dass die Hauswand etwas von der Wärme an den Lavendel zurückgeben kann und Staunässe ist bei der Hanglage auch nicht zu befürchten. Das hat mir übrigens der junge Mann im Gartenparadies gesagt, Staunässe ist der größte Feind des Lavendels. Was du nicht alles weißt, sagte Prager. Da bin ich aber froh, dass ich keine Dränage in Erwägung ziehen muss. Das sagt einer, der keine Schaufel anrührt, lachte Frau Prager. Du, der junge Mann, den ich um Rat gefragt habe, wäre sogar bereit, nach Feierabend vorbeizukommen, um mir beim Pflanzen zu helfen, ist das nicht

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