Der kleine Herr Carl. Cristina Zehrfeld

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Der kleine Herr Carl - Cristina Zehrfeld Maestro-Carl-Reihe

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Kind hatte Glück und wurde in eine musikalische Familie hineingeboren, oder es blieb sein Leben lang ein musikalischer Depp. Der kleine Herr Carl hatte Glück. Wie schon erwähnt, war seine Familie hochmusikalisch, aber darüber hinaus hatte Vater Carl ein sensationelles Konzept der musikalischen Früherziehung. Also seine Mundharmonika hat Vater Carl selbstverständlich nicht zum frühkindlichen Missbrauch durch den kleinen Herr Carl hergegeben. Angeblich wollte er eine Missbildung der noch in der Entwicklung befindlichen Zähne verhindern. Stattdessen hat er ein Glockenwerk in das Türmchen des Carl'schen Wohnhauses eingebaut, welches der kleine Herr Carl zu jeder vollen Stunde erklingen lassen durfte. Der junge Musiker nutzte das weidlich. Erst recht, als er mitbekam, dass in der Nachbarschaft einige missgünstige Musikbanausen wohnten. Da das Glockenspiel bis in die übernächste Straße zu hören war, wurde damit bereits die wichtigste Voraussetzung für das professionelle Musizieren gelegt: Dem kleinen Herrn Carl wurde schon im zarten Alter von zwei Jahren bewusst, dass er von Gott geschaffen ist, um für ein großes Publikum zu musizieren.

      Die Grundlage für Geniales

      Freilich lässt sich auf dem stündlichen Betreiben eines Glockenspieles keine wirklich tragfähige Karriere aufbauen, selbst dann nicht, wenn dieses Glockenspiel bis in die übernächste Straße zu hören ist. Deshalb hat der kleine Herr Carl die musikalische Herausforderung gesucht. Das wurde auch Zeit, denn inzwischen war er schon drei Jahre alt. Nun allerdings ging es richtig los. Die Voraussetzungen waren prächtig, denn nun durfte der kleine Herr Carl auf dem Klavier seiner Tante herumklimpern. Nicht nur hin und wieder, sondern jederzeit. Mutter Carl hat den kleinen Herrn Carl sogar dazu ermuntert, diese Möglichkeit möglichst ausschweifend zu nutzen, und zwar weil sie ihre Schwester, die Tante des kleinen Herrn Carl, nicht recht leiden konnte. Mutter Carl hoffte, dass sie ihre Schwester mit dem permanenten Geklimper in den Wahnsinn treiben könnte. Das hat allerdings nicht geklappt, weil der kleine Herr Carl schon nach kurzem Probieren die herzallerliebsten Melodien spielte. Das war ein großes Glück für die Tante, aber das Unglück der Cousine, die recht eigentlich zum Üben auf dem elterlichen Instrument verdonnert war: Der kleine Herr Carl hatte sie binnen weniger Tage überflügelt. Dies, obwohl er erst drei, die Cousine aber bereits dreizehn Jahre alt war. Aus Gram ist die bewusste Cousine (eine Tochter der Tante) vom Balkon des Hauses gesprungen und hat sich dabei beide Beine gebrochen. Ihr Klavierspiel ist davon kein bisschen besser geworden. Allerdings ist sie wenig später völlig dem Wahnsinn verfallen. Sie hat ihre Klavierausbildung an den Nagel gehängt, ist in die größte und renommierteste psychiatrische Einrichtung der Deutschen Demokratischen Republik umgezogen und hat sich dort wenig später mittels Selbstverbrennung vom Leben nach dem Tode befördert. Eine sehr traurige Geschichte aus der Kindheit des Maestro Carl, die der Meister dennoch sehr gern erzählt, denn die Cousine hat mit dieser heroischen Tat bewiesen, dass es in der Familie des Maestros definitiv massive psychische Störungen gab. Für Maestro Carl ein schier unglaublicher Glücksumstand, denn der innerfamiliäre Wahnsinn, so ist er überzeugt, macht das Genie überhaupt erst möglich.

      Nochmal, nochmal!

      Das ganze schöne Genie nützt nun leider rein gar nichts, wenn es nicht in die rechte Bahn gelenkt wird. Das ist das schwierigste Unterfangen überhaupt, denn es muss ja das richtige Instrument gefunden werden. Es ist kaum abzuschätzen, wie viele mittelmäßige Trompeter es gibt, die bei richtiger Wahl des Instrumentes ganz herausragende Triangelspieler geworden wären. Wie viele erbärmliche Geiger blieben der Welt erspart, wenn sie beizeiten begriffen hätten, dass recht eigentlich die Balalaika ihrem Genius gerecht geworden wäre. Natürlich muss ein kleines Genie sich rechtzeitig dezidiert äußern, wenn es eine solche Verheerung vermeiden will. Der kleine Herr Carl hat das in vorbildlicher Weise getan, und zwar am Heiligabend zur Christvesper in der Kirche. Der kleine Herr Carl hat sich das Krippenspiel mit wachsender Neugier angeschaut, er hat bei der langatmigen Predigt bedächtig mit dem Kopf geschüttelt, und beim Einsammeln der Kollekte hat er so getan, als ob er schläft. Als allerdings die Orgel spielte, war er ganz Ohr. Als das Instrument verstummte, rief der kleine Herr Carl laut und vernehmlich durch die Kirche: „Nochmal, nochmal.“ Alle Besucher wendeten ihre Köpfe zu dem Rufer hin. Mutter Carl hat wegen dieser ungeplanten Aufmerksamkeit einen hochroten Kopf bekommen. Vater Carl hat sich abgewendet und so getan, als ob er nicht dazugehört. Der kleine Herr Carl allerdings hat sich auf Mutters Schoß gestellt, er hat dreimal in die Hände geklatscht und erneut gerufen: „Nochmal, nochmal.“ Zum Zeitpunkt dieses denkwürdigen Vorfalls war der kleine Herr Carl noch immer drei Jahre alt.

      Kurze Beine

      Selbstverständlich wollte der kleine Herr Carl umgehend seine Orgelkarriere beginnen. Er ist sofort nach der Christvesper auf die Orgelempore gestürmt und hat die Orgelbank erklommen. Doch er wurde völlig überraschend in seinem Eifer gestoppt. Nicht von der Mutter, auch nicht vom Vater, ja nicht einmal vom Kantor. Doch wie er so auf der Orgelbank saß, musste der kleine Herr Carl mit Entsetzen feststellen, dass er mit ausgestreckten Armen nur beinahe an die Tastatur heranreichte. Und wie sehr er sich auch reckte und streckte: Seine Füße kamen nicht ans Pedal, sie baumelten hilflos in der Luft. Der kleine Herr Carl konnte seinem Instrument nicht den leisesten Ton entlocken. Er war den Tränen nahe, als Papa Carl ihn von der Orgelbank hob, doch weil sich die Eltern das schöne Weihnachtsfest nicht verderben lassen wollten, versprachen sie ihrem Sohn, dass er schon bald eine echte Klavierausbildung bekommen würde. Das war unklug, denn wichtige Dinge hat Maestro Carl noch nie vergessen, auch nicht, als er noch der kleine Herr Carl war. Deshalb hat er seine Eltern ab der Christvesper jeden Tag gefragt, ob es heute mit dem Klavierunterricht losgeht. Insgesamt hat er sie vierhundertundsiebenunddreißig Mal gefragt. An jedem dieser vierhundertundsiebenunddreißig Tage hat er sich am Klavier seiner Tante auf den versprochenen Unterricht vorbereitet. Dann endlich war es so weit: Ein paar Tage nach seinem fünften Geburtstag hat die Mutter den kleinen Herrn Carl zu seiner ersten Klavierlehrerin gebracht. Frau Herta war eine Grundschullehrerin, deren musikalisches Können auf der Tatsache beruhte, dass ihr längst verstorbener Gatte einst als Kantor gearbeitet hatte. Der kleine Herr Carl hatte ein kleines Ledermäppchen mit einem Liederbuch, einem Notenheft und mehreren Stiften dabei. Außerdem hatte er eine große Portion Eifer im Gepäck und den festen Willen, die Klavierlehrerin Herta mit seinem Genius zu beeindrucken.

      Die Mühen der Ebene

      Festen Schrittes eilte der kleine Herr Carl zum Klavier seiner neuen Lehrerin. Er schwang sich auf den Klavierstuhl und deutete dabei an, dass er die Schöße eines vermeintlichen Fracks nach hinten streift. Dann griff er behände in die Tasten und spielte aus dem Stegreif einen kleinen Ausschnitt seines beachtlichen Repertoires, welches inzwischen von „Nun danket alle Gott“ bis zu einer sehr gewagten Fassung der „Ode an die Freude“ reichte. Die Mutter blickte mit großem Stolz auf ihren Sprössling, die Lehrerin ließ ihn ein paar Minuten gewähren. Sie applaudierte nach dem Auftritt des kleinen Herr Carl sogar ein wenig. Doch das alles änderte nichts daran, dass für den kleinen Herrn Carl nun der Ernst des Lebens begann. Zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass Klavierspielen nicht nur aus Klavierspielen besteht, dass sogar die gelungenste Klimperei ausschließlich nach Gehör für eine Klavierlehrerin eine grobe Fahrlässigkeit darstellt. Jedenfalls hat die Kantorenwitwe Herta den kleinen Herrn Carl in den nächsten Monaten gezwungen, sehr viele Noten zu schreiben, so viele Noten, dass sein kleines Notenheft gar nicht ausreichte, sondern ein zweites und drittes Notenheft gekauft werden musste. Als schließlich das vierte Notenheft vollgeschrieben war, ist die erste Lehrerin des kleinen Herrn Carl am Ende mit ihrem Latein gewesen. Sie behauptete, dass er nun in die Musikschule gehen müsse. Bei seinem letzten Besuch stellte der kleine Herr Carl seiner Lehrerin noch eine Frage, die ihn schon lange bewegte. Das Klavier der alten Dame hatte zwei Löcher an der Frontseite und der kleine Herr Carl wollte wissen, warum. Frau Herta sagte verschmitzt: „So sieht ein Klavier aus, wenn es richtig in Schuss ist.“ Dann hat sie dem kleinen Herrn Carl erklärt, dass das Klavier im Krieg einmal wortwörtlich in die Schusslinie geraten ist. Die Einschusslöcher

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