Tief Verborgen. Pia Schenk
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Wie gerufen und ohne jede Hast schreitet der Schatten in meine Richtung, wird größer und größer. Seine Schuhe verursachen ein unangenehm knirschendes Geräusch auf dem alten Steinfußboden.
„Nein, nicht, lass mich! “, ich bitte und flehe, ich weine.
Hände kommen auf mich zu, versuchen nach mir zu greifen, verringern den Abstand deutlich. Zu nah!
„Nein, nicht anfassen!“
Ich habe jetzt solche Angst. Schlimme, schlimme Angst. Angst, Angst, Angst. Eine, die Bewegungen verhindert, blockiert. Der Schreck sitzt fest in meinen Gliedern und macht sie starr. Ich möchte so gerne rennen, aber ich kann nicht, stehe noch immer auf dem gleichen Fleck.
Die Kontrolle. Ich habe keine Kontrolle mehr über mich selbst - habe sie verloren. Ich bin außer mir. So hilflos.
Stillstand, Dunkelheit, pures Schwarz.
Abrupt senkt sich Traurigkeit wie endgültig über mich. Einen Augenblick lang bin ich frei jeder Wahrnehmung. Frei und leicht.
Aber dann, dann spüre ich sie in mir aufsteigen, sie ist überall, ich kann sie förmlich sehen – die Ausweglosigkeit. Wie ein Strudel nimmt sie mich gefangen, reißt mich mit und ein Schrei, ganz tief von innen kommend, lässt meinen Körper vibrieren.
Ein Schrei voller Hoffnungslosigkeit dringt nach außen. Gellend und laut flieht er in den Raum, wird von den Wänden abgewiesen und dringt zurück in mein Ohr. Jäh beendet er alles und ich wache, ihn noch aushauchend, wieder auf.
Atmen! Ich muss tief einatmen, durch die Nase, durch den Mund, Luft holen, die Lungen füllen. Ich muss mich beruhigen. Einatmen, ausatmen.
Es war ein Traum, ich habe das alles nur geträumt, intensiv. Immer kommt er wieder, so verdammt real und raubt mir alle Kraft, wieder und wieder, der gleiche Traum. Kannte ich diesen düsteren Ort etwa? Das Gesicht, sein Gesicht, so sehr ich mich bemühe, ich schaffe es einfach nicht ihn zu erkennen und das viele Blut.
Aber jetzt bin ich wach! Ich bin zu Hause und komme langsam der Gegenwart entgegen. Was ruft nur eine solche Angst in mir hervor? Ein ewiges Fragespiel ohne Antworten. Mir ist vorerst nicht mehr zum Denken zumute.
Dieser Schlaf hatte mir keine Erholung gebracht und ich hatte Bedenken mich wieder hinzulegen. Manchmal träumt man ja dort weiter, wo man aufgehört hatte. Ich wusste nicht, ob ich das wollte, weiterträumen. Die Trennung zwischen nächtlicher Projektion und täglicher Realität schien sich zuweilen sanft aufzulösen. Sie begannen sich gegenseitig zu beeinflussen, gingen ineinander über. Die gefühlte Intensität des Traumgeschehens verwirrte mich, berührte mein Inneres, tief drinnen tat es weh. Alles wirkte so „wahr“, so tatsächlich, so echt. Eine Erinnerung? Bleibt aus, fehlt.
Bereits als Kind schreckte ich mit diesen Visionen aus dem Schlaf. Meine besorgten Eltern brachten mich zu Ärzten und Psychologen, um die nächtliche Ruhe wieder herzustellen. Trotz aller Gespräche und Analysen blieben sie mir erhalten, machten sich allerdings rar mit den Jahren.
Aber jetzt bin ich froh zu Hause zu sein, ich fühle mich gerne zu Hause. Meine Augen fallen auf vieles, was mir gefällt, was ich gut zu kennen glaube. Allseits von Dingen umgeben, die nur mir etwas bedeuten, mit denen mich eine Geschichte verbindet, die mir Geborgenheit vermitteln.
Die ersten Sonnenstrahlen treffen zaghaft auf der weitläufigen Dachterrasse ein, locken mich nach draußen. Einfach die Frühe genießen, die Frische des Morgens. Der Tag bricht gerade erst an und unter meinen nackten Füssen spüre ich das erfrischende Nass des Morgentaus, der den gefliesten Boden bedeckt. Schutzsuchend lehne ich mich an das Geländer und lasse meinen Blick wandern. Von Dach zu Dach, über die hohen Bäume hinweg bis zu den bauchigen Türmen der Frauenkirche, im Herzen Münchens.
Meine Tasche für das kommende Wochenende am See hatte ich bereits gepackt. Ich musste mich nur noch sammeln und anziehen. Das klang einfacher, als es war.
Würde es denn immer so weitergehen? Würde es denn nie aufhören? Konnte er nicht einfach weggehen, dorthin woher er gekommen war, der Traum.
Ich holte so tief ich konnte Luft und schmetterte dem Traum und der Welt ein lautes „NEIN“ entgegen.
Das „NEIN“ tat mir gut. Ich sollte öfter mal „NEIN“ sagen!
Aber eigentlich wusste ich genau, - er würde nicht weggehen, einfach so. Irgendetwas mit mir, in meinem Leben stimmte nicht und brachte mich aus dem Gleichgewicht. Das glaubte ich verstanden zu haben und das musste ich jetzt endlich herausfinden.
Da mir das Stehen im warmen Morgengrauen vorerst auch nicht weiter half, drehte ich mich um und ging zurück in meine Wohnung.
Der Druck in meinem Kopf nahm wieder zu.
Ich verspürte Müdigkeit, Durst und den Wunsch meine Hände zu waschen, - so lange zu waschen, bis sie sauber waren und nur noch klares Wasser an ihnen hinab rann.
Kapitel 1 Swan Valley I
Kaum war ich geboren, entschieden sich meine Eltern aus ihrer gewohnten Welt auszubrechen, um weit weg, auf der südlichen Halbkugel, eine neue Existenz aufzubauen.
Das spurlose Verschwinden meines Großvaters Paul, zehn Jahre zuvor in Südafrika, sowie der plötzliche Unfalltod meiner Großmutter Lena gaben ihnen das nötige Startkapital dazu.
Vor ihrer endgültigen Abreise mussten sie jedoch noch zwei schwere Hürden nehmen. Zum einen war da die legale Todeserklärung meines Großvaters, welche offiziell erst nach Ablauf der zehnjährigen „Wartefrist“ erfolgen konnte. Und zum anderen schmerzte die Beteiligten, der darauf folgende bürokratische Vorgang der Erbteilung, - ein oft so kläglicher Versuch, auf rein rationale Art, die Quintessenz zweier Leben zu teilen. Schwer wog hier besonders, dass eine Entscheidung über den Verbleib des elterlichen Vermächtnisses gefällt werden musste. Aber da auch der Bruder meiner Mutter keinerlei Interesse an der Weiterführung des Familienunternehmens zeigte, wurde der Verkauf, in geschwisterlicher Übereinstimmung und erstaunlich lukrativ, abgewickelt. Die Obstplantage, die dazugehörigen Fabriken, der Weinberg, das elterliche Haus am Bodensee und alle damit verbundenen Erinnerungen existierten fortan nur noch in ihren Gedanken.
Meine Mutter Carolin litt sehr unter dem Verlust ihrer Eltern, hatte aber - dank der neuen Zukunftsperspektive – wenig Zeit, sich ihrem Kummer hinzugeben.
Meine Eltern einte eine tiefe Verbundenheit zur Natur. Es war ihr lang gehegter Wunsch, gemeinsam ein Weingut aufzubauen. Vor der Hochzeit arbeitete mein Vater Nicholas als Bauingenieur beim Straßen- und Brückenbau, vor allem in Westaustralien. Er fühlte sich auf der anderen Seite der Welt sofort wie zu Hause. All seine freie Zeit verbrachte er damit, die abwechslungsreiche Landschaft um Perth auszukundschaften und das mediterrane Klima zu genießen.
So kam er schließlich auch ins „Swan River Valley“, der Name versprach ihm Mystisches. Der Schwanenfluss fließt vom Walyunga Nationalpark aus, auf seinem Weg zum Indischen Ozean, durch das Swan Valley, Perth, Guiltford