Tonstörungen. Wilhelm Koch-Bode

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Tonstörungen - Wilhelm Koch-Bode

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      Wilhelm Koch-Bode

      Tonstörungen

      Malernovelle

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Begleitperson

       Schwacher Sender

       Schwarzer Peter

       Einführungskurs

       Schleichwege

       Motivjagd

       Flashback

       Besuchssituation

       Harter Tobak

       Flinke Hände

       Geheimfach

       Lange Finger

       Alte Kamellen

       Ordnungsliebe

       Honigmond

       Abbruchkante

       Kopfkino

       Restemarkt

       Epilog

       Anmerkungen:

       Impressum neobooks

      Begleitperson

      Am Gänsemarkt würden sie aussteigen. Endlich. Steif, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Knie eng zusammengepresst, hockt er neben der jungen Frau. Bewacht sie aus den Augenwinkeln. ‚Das Schlimme‛ denkt er, ‚kommt nicht! Es fängt gar nicht erst an. Heute bleibt alles gut. Gefahr vorbei‛. - Tatsächlich, manchmal bleibt alles gut, aber oft wird es schlimm, richtig schlimm. Noch drei Stationen bis Gänsemarkt. ‚Halte durch! Bitte!‘ kommt es lautlos von seinen Lippen.

      Verdammt … hat nicht geklappt … geht los, der Mist. Die Vorboten sind immer gleich: Angewinkelte Arme. Geballte Hände. Scharrende Füße. Pendelnder Kopf. Flache Atmung. Spätestens jetzt fängt sein Herz an zu rasen. Das Gesicht der Frau läuft rot an, auf Nase und Stirn perlt Schweiß. Ihr magerer Körper wird von einem Stakkato trockener Hustenstöße geschüttelt. Hört sich an wie das aufgeregte Gekläff eines kleinen Hundes - eines Spitzes oder so ähnlich. Mit lautem Quietschen - wie bei einer Schranktür, die hektisch hin und her schwenkt - schnappt sie nach Luft. Der Mund weit offen, die Hände an die Ohren gelegt - etwa so, wie der Mensch auf einem Gemälde, das Der Schrei heißt und das ihm der Großvater in einem Buch gezeigt hat. Mit dem Oberkörper schaukelt sie vor und zurück, fasst sich an die Kehle, rudert wild mit den Armen, stampft mit den Füßen auf, zieht die Beine an die Brust. Nach zwei, drei Minuten ebbt das Keuchen ab. Schlapp, mit noch schweren, aber langsameren Atemzügen, sitzt sie da. An der nächsten Haltestelle steigen Mutter und Kind aus und gehen zu Fuß weiter.

      Während vier, fünf Minuten hat der Junge sich wie im freien Fall gefühlt: voller Angst, wo und wie er lande, die Mutter sich überlassend, während sie ums Überleben kämpft. Dass es hier um etwas ganz Bedrohliches ging, um etwas, das einen ganz schlimmen Ausgang nehmen könnte, hatte er schon beim ersten Mal gespürt. Den gehetzten Blick der Mutter, ihr Ringen um Luft, auch das Aufsehen, das sie hervorrief, erlebte er wohl noch zwölf-, dreizehnmal - nicht nur in der Straßenbahn, ebenso in Wartezimmern bei Ärzten. ‚Heute bleibt sie still‛, ‚nichts passiert‛, ‚sie kriegt gut Luft‛. Sein stummes Flehen beendete der Junge erst, wenn die Mutter im Sprechzimmer verschwand. Leider hatte er nicht immer Erfolg, aber dann kam wenigstens eine von den weiß angezogenen Frauen und brachte sie ganz schnell raus. Mit rotem Kopf hockte er da, bis sie endlich abgefertigt war. Manchmal biss er sich ein paar Nägel ab. Wenn er es nicht hinkriegte, beim Abendessen die Fingerkuppen so nach innen zu biegen, dass die Stellen nicht gleich ins Auge fielen, musste er eine Schimpfkanonade des Vaters - willensschwach, undiszipliniert, liederlich, einer mit schlechten Angewohnten, die auf die Eltern zurückfallen, sei er - über sich ergehen lassen.

      Der Junge bekam mit, dass die Mutter nicht nur in der Tram, sondern auch anderswo diese schrecklichen Anfälle kriegte. So gingen die Schuberts, den Jungen allein lassend, abends eigentlich gern mal ins Kino. Sie besaßen auch ein Abo fürs Theater. Nach ein paar Monaten gaben sie die Besuche aber ganz auf, denn - so hatte er es aufgeschnappt - die Mutter überkam es auch dort. Deshalb hatte das Paar wohl schon einige Male überstürzt den Saal verlassen müssen.

      Oft hielten den Jungen Phantasien fest - von einem qualvollen Erstickungstod, seinem eigenen wie dem der Mutter. Unterwegs mit ihr, fieberte er in größter Anspannung - auf den nächsten Ausbruch wartend. Obwohl er den Verlauf dieser seltsamen Anfälle mittlerweile kannte, wurde er jedes Mal neu von Entsetzen gepackt. Wenn es dann vorbei war, atmete er erleichtert auf, fühlte sich aber nur für den Moment frei, denn die Not der Mutter war ja nicht vorbei. Die Angst um sie blieb sitzen, gleichzeitig schämte er sich für sie. Schließlich entgingen ihm nicht die Reaktionen der Leute - wie sie seine Mutter anstarrten, extra zur Seite guckten, sich woanders hinsetzten. Oder fragten: Haben Sie was verschluckt? Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Brauchen Sie einen Arzt? Soll ich Ihnen auf den Rücken klopfen? Oder sich murmelnd austauschten: Unverantwortlich, so in die Straßenbahn zu steigen! Ja, ’ne wandelnde Bazillenschleuder! Man steckt sich bei der noch an! Die scheint wohl mit galoppierender Schwindsucht unterwegs zu sein!

      Mitten in einem Spektakel zu sein, obwohl er nur stiller Begleiter der Hauptfigur war - das war für den Jungen alltägliches peinliches Erleben. Und ihn beschäftigten Fragen, die er den Eltern nicht zu stellen wagte: Was ist denn eine Bazillenschleuder? Was bedeutet galoppierende Schwindsucht?

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