Der Besucher. Norbert Johannes Prenner

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Der Besucher - Norbert Johannes Prenner

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durch-aus nicht der Eindruck einer einheitlichen Wirkung auf den Betrachter, sondern vermittelte, ganz und gar vielfältige, kraftvolle Stilvariante zu sein, die sich in allen übrigen Räumlichkeiten eigendynamisch entfaltete.

      Inmitten also dieser architektonischen Pracht jenes postromantischen Salons pflegte Norman Moll seinen traditionellen Fünf-Uhr-Tee zu nehmen, alleine. Man war noch zu Anwendungen, und der gesellschaftliche Teil des Tages, besser gesagt, der des Abends, pflegte gewöhnlich erst gegen neunzehn Uhr seinen Anfang zu nehmen und konnte, ungehindert von Personal oder Verwaltung, oft bis tief nach Mitternacht dauern. Moll war der einzige Gast, der nicht der Rehabilitation wegen hierhergekommen war, ganz und gar nicht. Viel mehr zog es ihn bereits viele Jahre, beinahe magnetisch, auf der Suche nach Ruhe und aus Gründen der Erlangung vollkommener Kontemplation regelmäßig in dieses gastliche, vornehme Haus, wie etwa ausgedehnter Spaziergänge wegen, rund um den See, oder gar auf einen nicht allzu hohen Berg. Nicht jedoch zuletzt auch wegen des Klimas einer zu-meist hervorragenden Konversation, die sich ihm an bestimmten Zeiten des Tages wie auch der Nachtstunden stets darbot, des ewigen Gehens müde geworden, hingegen den Geist gefordert sehen wollend. Moll lehnte sich behaglich in einem cremefarbenen Samtfauteuil zurück, blickte, in einer seine abgenutzten Halswirbel schonenden Weise zur Decke empor und fühlte sich in dieser arkadischen Welt mit ihren Malereien, Skulpturen und bunten Glasfenstern, dieser Scheinwelt symbolischer Kunstideale künstlich geschaffener Götter, reinster Zynismus, dachte er nebenbei, dies obendrein in einem Land monotheistischen Glaubens, entrückt in ein Traumsein, was manchen Men-schen ebenso wiederfahren sein mochte, und welches sich seit Jugend schon in ihm manifestiert hatte, war es ihm manchmal geglückt, sich unbeobachtet aus dem alles tötenden Alltag fortstehlen zu können.

      In dieser Situation erfasste ihn zumeist der innere Wunsch, ein Trieb beinahe schon, nach seiner Pfeife in der rechten Rocktasche zu greifen, italienischer Provenienz, um diese aus ihrem dumpfen Gefängnis zu befreien. Leidenschaftlich ertasteten seine Finger die rustizierte Struktur des Pfeifenkopfes, stets ritualisierter Berührungsablauf, und wenn es ums Design ging, schien den Italienern von je her stets das Hervorragendste gelungen, waren es Autos, Kleidung oder was sonst noch alles. Moll schätzte jene Pfeife ganz besonders und er wurde nicht müde, sie zu bewundern, sie täglich erneut zu berühren und in ihren Konturen zu erfahren, nicht zuletzt auch ihrer anthrazitenen Tönung wegen, die in ihm etwas wie die Wehmut eines verlorenen und plötzlich wiedergewonnen Horizontes auslösen konnte, hervorgerufen durch eine kleine, unscheinbare Farbauslassung am Ende des Holms, nussbraun schimmernde Lasur oder hölzerner Urgrund, dazu angetan, ihm jene süße Ahnung zu entlocken, wenngleich auch nur auf Dauer des Bruchteils einer Sekunde, ein schmaler Streifen bloß, zwischen dieser Stelle und dem Rest glänzendem Touch undurchdringlicher Steinkohle. Moll hatte sie erst vor kurzem geraucht, es war noch genügend Tabak darin vorhanden.

      Geübt zog er das silberne Feuerzeug aus der schmalen Öffnung seines enganliegenden, silbergrauen Seidengilets, in der hehren Absicht, das pechschwarze Kraut darin erneut zu entflammen, welches, kaum mit dem Feuer in Berührung, sich sogleich aufbäumte in seinem Schmerz, um kurz darauf rubinrot zu erglühen. Nun galt es, die Intensität des Brandes zu bezähmen, die Rauchschwaden auf ein Minimum zu reduzieren, die Hitze einzudämmen auf ein erträgliches Maß, denn nur so konnte sich die angenehme Süße, das eigenwillige Aroma und der vollkommene Charakter dieser Mixture seinen Weg durch das Labyrinth von Molls Geschmackspapillen suchen, stets in der Hoffnung, stabiler, zumindest für eine bestimmte Zeit nachhaltiger Entwicklung der sich gleichmäßig ausbreitenden Glut entgegenzublicken. Diese zu bezähmen und zu hegen war sein Ziel, des Pfeifenrauchers innigstes Bestreben. Gleichzeitig aber lag der tiefere Sinn in der Ausprägung einer Disziplinierung, die Gifte, die ja wie Laster den Tugenden beigemischt sind, zu mäßigen, um sich ihrer, gewissermaßen als Trost, im ständigen Kampf gegen die Übel des Daseins zu bedienen.

      Moll war verzückt vom Flair des Duftes, obgleich – selber zu rauchen bedeutete verminderte Wahrnehmung der Raumnote, die sich dem Passivraucher wesentlich intensiver, gleichsam als der wahre Charakter des Aromas in seiner ursprünglichsten Form offenbarte. Diese Tatsache war zwar bedauerlich, aber es störte ihn nicht weiter, hatte er immerhin das individuelle Vergnügen, warmen, wohlgeformten Holzes in seinen Händen. Darüber hatte er völlig die Zeit vergessen, nicht einmal das gleichmäßige Ticken der schweren Pendeluhr und deren Viertelschläge konnten ihn aus seinen Gedanken in die Nüchternheit des späten Nachmittages zurückholen.

      So überhörte er auch das trockene Knarren der großen Flügeltür zum Salon, die sich vorsichtig geöffnet hatte, und eine schlankgewachsene Dame in glänzend grünem Chiffonkostüm hereinließ, das Haar leicht angegraut, ein weißes Leinenjäckchen über den Schultern hängend, ein Buch in der linken Hand, elfenbeinweiße Perlmuttohrklipse leuchteten kurz in einem vergessenen Sonnenstrahl auf. Sybilla Trinks dachte vorerst, Norman Moll hätte die Augen geschlossen und wäre etwas eingenickt, als dieser sich plötzlich zu ihr umdrehte und sie erstaunt ansah. Als hätte er eine Vision, und diese Frau schon – ja, als Kind schon irgendeinmal wo gesehen. Damals, 1961, als man in Gleichenberg zur Sommerfrische war. Er selbst mochte vier, oder fünf gewesen sein. So musste sie ausgesehen haben. Er war ja noch ein Knirps gewesen. Und sie - hatte sich zu ihm heruntergebeugt und ihn sanft geküsst. Unmöglich – das konnte nicht – seit damals waren fünfzig Jahre vergangen, da müsste sie ja... lächerlich! Da offenbarte sich ihm so plötzlich eine Erinnerung – einer Erscheinung gleich - und seine Hände streckten sich nach ihr hin und zogen sie sanft zu sich heran – er spürte nicht den leisesten Widerstand – er löste die Barrieren textilen Dazwischens, das sanft zu Boden glitt – transparent rosafarbenes Darunter – er berührte fremdes Gewebe - glasklare Tautropfen auf krausem Moos – ihre Achselhöhlen versandten Deoströme in heißen Wellen wiederkehrender Intervalle – dann trugen sie die Wogen der Leidenschaft hinaus aufs offene Meer der Lüste – spülte sie wieder an Land, um sie gleich darauf wieder in die offene See hinauszutragen – immer wieder – um schließlich jäh an den Strand geworfen zu werden.

      „Sie haben schon zu Abend gegessen?“, fragte Sybilla Trinks freund-lich, und lächelte ihn an. Moll erschrak. „Nein - nein!“, sagte er leise, „ich war nur ein wenig – aber, so setzen Sie sich doch, bitte! Es ist noch niemand hier, wie Sie sehen, ich – bin der einzige.“ Sybille Trinks ließ sich auf das Sofa fallen. „Ach“, seufzte sie, „bin ich fertig! Ich komme eben von der Unterwassermassage. Es war viel zu warm dort drinnen. Waren Sie schon einmal...?“ „Nein“, winkte Moll ab, „ich bin nur zur Erholung hier, nicht auf Kur. Ich glaube, schon seit...“, er dachte kurz nach, „ich denke, schon acht oder neun Jahre sind es, dass ich hierher komme. Ich mag dieses Haus, das viele Grün, den See“, schwärmte er. Er legte seinen Kopf ganz zurück auf die Fauteuilkante und blickte zu den Göttern hinauf. „Waren Sie jemals in Gleichenberg?“ „In Gleichenberg? Nein“, lachte sie, „warum? Wie kommen Sie drauf?“ „Ach nichts, ich dachte nur...“, erwiderte Moll. Natürlich, wie dumm von mir - aber gleichzeitig bereute er, nicht schon eher gegangen zu sein. Nun war es zu spät. Seit er sie gesehen hatte, gestern, gleich nach seiner Ankunft schon – sie war ihm sofort aufgefallen - anmutige Grazie, dachte er – ich muss verrückt sein – ich kenne sie ja gar nicht. Wer weiß, welche Launen sie wohl haben mag – Frauen um fünfzig, ausgeprägte Persönlichkeit - sehr eigenwillig – vielleicht ist sie schon im Wechsel – sicherlich ist sie verheiratet!

      Seine Augen suchten vergeblich nach dem verräterischen Ring an ihrer rechten Hand. Nichts! Vielleicht hatte sie ihn abgelegt, um ihn nicht zu verlieren, wer weiß – aber heutzutage war doch ohnehin alles egal. Eine selbstbewusste Frau tut sowieso, was sie tun muss. „Bleiben Sie am Abend hier?“, fragte sie. „Ich denke schon, vielleicht – spielen Sie Bridge? „Ich weiß nicht, ist schon lange her, dass ich... früher einmal, in Meran glaub’ ich. Ach, ich kann mich gar nicht mehr erinnern, ob das Bridge war“, sagte sie ein wenig unsicher. Moll lächelte. „Ich bin kein guter Spieler“, meinte er, „es geht mehr darum, zusammenzusitzen, und ein wenig Ablenkung zu haben, sie verstehen?“ „Ja ja. Gestern haben sie uns ja noch nicht Gelegenheit gegeben“, sagte sie. Moll, dessen Blicke nie länger als er es ertragen konnte, in ihren grünen Augen verweilte, nahm sich vor, dieses Mal nicht auszuweichen und ihre etwas länger als bisher

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