Der Lauf der Zeit. Friedrich von Bonin
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23.
Bruno verlor sich in seinen Büchern, denn er traute sich kaum, von Margarete zu träumen, er ängstigte sich, seinen Phantasien nachzugeben. Er las all das, was in der Schule nicht gelehrt wurde. Zeit hatte er genug, die Schule forderte ihn nicht ernsthaft, er war wach in den Unterrichtsstunden. Hier kam ihm die Eigenschaft zugute, die er erst in späterer Zukunft schätzen lernte: er fasste sehr schnell auf, was Lehrer in der Stunde erklärten, er war aufmerksam und konzentriert, was den Vorteil hatte, dass er nicht nacharbeiten musste. Die eigentlichen Schularbeiten erledigte er in kürzester Zeit und hatte dann Muße, um mit Hans durch das Dorf zu schlendern. Nun sprachen sie mehr, aber immer noch spöttisch, über Politik. Sie tauschten sich aus über das, was sie gelesen hatten. Die DDR war es, an der sich die Freunde abarbeiteten. Bruno, konservativ von seinem Vater geprägt, war „gegen die Kommunisten“. Die hatten die Mauer gebaut, und im Übrigen waren Kommunisten von vornherein unakzeptabel. Hans war da noch unentschlossener. Klar, Ulbricht war ein Unterdrücker, aber Sozialismus, das hatten auch die Sozialdemokraten auf dem Banner, und das war gut. So stritten die Jungen.
Und dann wurde ruchbar, was die Amerikaner in Vietnam trieben. Sie bekämpften die Kommunisten, damit war Bruno noch ungeteilt einverstanden, aber sie brachten Zivilisten um, wahllos, in Mengen, mit furchtbaren Waffen, sie verbrannten ganze Wälder. Konnte, durfte man ein ganzes Land entvölkern, entlauben, verbrennen, verwüsten, nur um den Kommunismus zu bekämpfen?
Und je älter sie wurden, desto schärfer wurden die Debatten, desto mehr entfernte sich allerdings auch Bruno von den Ansichten seines Vaters. Sicher, immer noch verstand er, wie behindernd das Verbot zu reisen sein konnte, er wusste die Pressefreiheit zu würdigen, alles das gab es in den Ländern, in denen der Sozialismus die herrschende Lehre war, nicht. Aber Pressefreiheit? Wer hatte die denn in den sechziger Jahren in Westdeutschland? Sah Bruno nicht jeden Morgen die hetzenden Schlagzeilen der Bildzeitung, die, ebenso wie „Die Welt“ und alle Zeitungen des Springerverlages die tatsächlichen Gegebenheiten nicht akzeptieren wollten, die noch von der „sowjetisch besetzten Zone“, der „sogenannten DDR“ schrieb und die DDR in Gänsefüßchen setzte, als alle anderen schon längst die Existenz dieses zweiten deutschen Staates anerkannt hatten? Und schließlich, jenseits aller dieser praktischen Erwägungen, war das nicht eine großartige Idee, die von der Überwindung von Klassen und dem Absterben des repressiven Staates? Und die Russen? Warum hatte der Vater und hatten alle seiner Generation solche Angst vor den Russen? Bruno hatte Gräuelgeschichten gehört von den Taten der russischen Armee 1945 und hatte sie auch geglaubt. Aber anders als die Alten fürchtete Bruno nicht den Überfall der Sowjetarmee auf Westdeutschland, Bruno hatte die neuere Geschichte sorgfältig gelesen: Nie waren es die Russen gewesen in der Neuzeit, die zuerst nach Deutschland gekommen waren, immer waren entweder die Deutschen in den beiden Weltkriegen, oder vorher Napoleon mit seiner Armee, nach Russland einmarschiert und hatten erst so die russische Armee auf den Plan gerufen. Warum sollten eigentlich jetzt, in den sechziger Jahren, die Russen erstmals einfallen, ohne vorher überfallen worden sein? Bruno stellte die Frage ruhig, unprovokant seinem Vater, der darauf seinem Sohn überlegen antwortete, er kenne eben den Sowjet, den Ivan, nicht. Bruno schwieg.
Bruno schwieg mittlerweile zu allen Ansichten seiner Eltern. Sie waren gefangen in ihrer eigenen Geschichte, ihren eigenen Wertvorstellungen und Erinnerungen. Sie hatten mit den Dingen, die er lernte, nichts zu tun und konnten dazu wohl auch keinen Zugang haben.
Seine Eltern sprachen von den Dorfbewohnern immer noch als den „einfachen Leuten“. Wohl fühlten sie sich, wenn sie mit Mitgliedern der eigenen „Kiste“, so nannten sie das, zusammen waren, das waren Verwandte oder andere Flüchtlinge, die wie die Eltern von großen Gütern geflohen waren. Alle anderen waren einfach. Die tägliche Existenz der Eltern und der Familie sah komplett anders aus: Bruno hatte bei der „einfachen“ Frau Koopmann und der Schlachterin um Einkaufskredit betteln müssen. Wieso sollte er, der betteln musste, vornehmer sein als die, die er anbetteln musste? Bruno hatte dies nie verstanden. Und als Primaner sah er den Vater in seinem bürgerlichen Beruf als Versicherungsvertreter mit Herrn Hansmeyer konkurrieren, der ebenfalls Versicherungsvertreter war. Herr Hansmeyer ein „einfacher Mann“, der Vater dagegen nicht?
„Junge, sieh doch nicht aufs Geld, wenn du darüber nachdenkst, das ist doch nicht eine Frage des Geldes oder des Reichtums!“, war die Ermahnung der Eltern, wenn er sie darauf ansprach. Bruno schwieg wieder. Er wusste selbst, dass es nicht der Reichtum war, den die Eltern meinten. Aber zum einen, was denn sonst, was war das Unterscheidungsmerkmal, wenn nicht das Vermögen? An dem Namensbestandteil „von“ konnte es nicht liegen, im Dorf gab es eine Familie „von Twistern“, einfache Leute, wie die Eltern sagten. Es musste irgendetwas aus der Vergangenheit sein, das aber Brunos Gegenwart nicht berührte. Bruno fühlte sich daher der „bürgerlichen Klasse“ zugehörig, wie sie von den Theoretikern genannt wurde. Langsam, ganz langsam machte sich mit diesen Überlegungen, Diskussionen, mit der Lektüre Brunos Verstand geltend, bestimmte zunehmend seine Ansichten.
Auch mit Margarete sprach er nie über diese Erkenntnisse. Er wusste, dass ihr Vater Arzt war. Sie hatte nach Brunos Eindruck Armut nie kennen gelernt, wohl auch nie anschreiben lassen müssen. Margarete hatte eine Schwester, von der sie liebevoll sprach. Zu ihrem Vater, den Bruno nur einmal gesehen hatte, hatte sie ein sehr gespanntes Verhältnis. Margarete erzählte ebenso wenig wie Bruno von dem Verhältnis zu ihren Eltern, Bruno fragte auch nicht danach. Auch nach ihrem Leben in der DDR fragte er sie nie. Ihr Vater war, so hatte er von anderen gehört, aus der DDR geflüchtet, als sie zwölf Jahre alt war. Sie war dort also schon zur Schule gegangen, erzählte aber von sich aus nie darüber.
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