Die Welt von gestern. Stefan Zweig

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Die Welt von gestern - Stefan Zweig

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und es war das eigentliche Genie dieser Stadt der Musik, alle diese Kontraste harmonisch aufzulösen in ein Neues und Eigenartiges, in das Österreichische, in das Wienerische. Aufnahmewillig und mit einem besonderen Sinn für Empfänglichkeit begabt, zog diese Stadt die disparatesten Kräfte an sich, entspannte, lockerte, begütigte sie; es war lind, hier zu leben, in dieser Atmosphäre geistiger Konzilianz, und unbewußt wurde jeder Bürger dieser Stadt zum Übernationalen, zum Kosmopolitischen, zum Weltbürger erzogen.

      Diese Kunst der Angleichung, der zarten und musikalischen Übergänge, sie ward schon offenbar im äußern Gebilde der Stadt. In Jahrhunderten langsam gewachsen, aus innerem Kreise organisch entfaltet, war sie volkreich genug mit ihren zwei Millionen, um allen Luxus und alle Vielfalt einer Großstadt zu gewähren, und doch nicht so überdimensional, um abgelöst zu sein von der Natur wie London oder New York. Die letzten Häuser der Stadt spiegelten sich im mächtigen Strome der Donau oder sahen hinaus über die weite Ebene oder lösten sich auf in Gärten und Felder oder klommen in sachten Hügeln die letzten grün umwaldeten Ausläufer der Alpen hinauf; man fühlte kaum, wo die Natur, wo die Stadt begann, eines löste sich ins andere ohne Widerstand und Widerspruch. Innen wiederum spürte man, daß wie ein Baum, der Ring an Ring ansetzt, die Stadt gewachsen war; und statt der alten Festungswälle umschloß den innersten, den kostbarsten Kern die Ringstraße mit ihren festlichen Häusern. Innen sprachen die alten Paläste des Hofs und des Adels versteinerte Geschichte; hier bei den Lichnowskys hatte Beethoven gespielt, hier bei den Esterházys war Haydn zu Gast gewesen, da in der alten Universität war Haydns ›Schöpfung‹ zum erstenmal erklungen, die Hofburg hatte Generationen von Kaisern, Schönbrunn Napoleon gesehen, im Stefansdom hatten die vereinigten Fürsten der Christenheit im Dankgebet für die Errettung vor den Türken gekniet, die Universität hatte unzählige der Leuchten der Wissenschaft in ihren Mauern gesehen. Dazwischen erhob sich stolz und prunkvoll mit blinkenden Avenuen und blitzenden Geschäften die neue Architektur. Aber das Alte haderte hier so wenig mit dem Neuen wie der gehämmerte Stein mit der unberührten Natur. Es war wundervoll hier zu leben, in dieser Stadt, die gastfrei alles Fremde aufnahm und gerne sich gab, es war in ihrer leichten, wie in Paris mit Heiterkeit beschwingten Luft natürlicher das Leben zu genießen. Wien war, man weiß es, eine genießerische Stadt, aber was bedeutet Kultur anderes, als der groben Materie des Lebens ihr Feinstes, ihr Zartestes, ihr Subtilstes durch Kunst und Liebe zu entschmeicheln? Feinschmeckerisch im kulinarischen Sinne, sehr um einen guten Wein, ein herbes frisches Bier, üppige Mehlspeisen und Torten bekümmert, war man in dieser Stadt anspruchsvoll auch in subtileren Genüssen. Musik machen, tanzen, Theater spielen, konversieren, sich geschmackvoll und gefällig benehmen wurde hier gepflegt als eine besondere Kunst. Nicht das Militärische, nicht das Politische, nicht das Kommerzielle hatte im Leben des einzelnen wie in dem der Gesamtheit das Übergewicht; der erste Blick eines Wiener Durchschnittsbürgers in die Zeitung galt allmorgendlich nicht den Diskussionen im Parlament oder den Weltgeschehnissen, sondern dem Repertoire des Theaters, das eine für andere Städte kaum begreifliche Wichtigkeit im öffentlichen Leben einnahm. Denn das kaiserliche Theater, das Burgtheater war für den Wiener, für den Österreicher mehr als eine bloße Bühne, auf der Schauspieler Theaterstücke spielten; es war der Mikrokosmos, der den Makrokosmos spiegelte, der bunte Widerschein, in dem sich die Gesellschaft selbst betrachtete, der einzig richtige ›cortigiano‹ des guten Geschmacks. An dem Hofschauspieler sah der Zuschauer vorbildlich, wie man sich kleidete, wie man in ein Zimmer trat, wie man konversierte, welche Worte man als Mann von gutem Geschmack gebrauchen durfte, und welche man zu vermeiden hatte; die Bühne war statt einer bloßen Stätte der Unterhaltung ein gesprochener und plastischer Leitfaden des guten Benehmens, der richtigen Aussprache, und ein Nimbus des Respekts umwölkte wie ein Heiligenschein alles, was mit dem Hoftheater auch nur in entferntester Beziehung stand. Der Ministerpräsident, der reichste Magnat konnte in Wien durch die Straßen gehen, ohne daß jemand sich umwandte; aber ein Hofschauspieler, eine Opernsängerin erkannte jede Verkäuferin und jeder Fiaker; stolz erzählten wir Knaben es uns einander, wenn wir einen von ihnen (deren Bilder, deren Autographen jeder sammelte) im Vorübergehen gesehen, und dieser fast religiöse Personenkult ging so weit, daß er sich sogar auf seine Umwelt übertrug; der Friseur Sonnenthals, der Fiaker von Josef Kainz waren Respektspersonen, die man heimlich beneidete; junge Elegants waren stolz, von demselben Schneider gekleidet zu sein. Jedes Jubiläum, jedes Begräbnis eines großen Schauspielers wurde zum Ereignis, das alle politischen Geschehnisse überschattete. Im Burgtheater gespielt zu werden, war der höchste Traum jedes Wiener Schriftstellers, weil es eine Art lebenslangen Adels bedeutete und eine Reihe von Ehrungen in sich schloß, wie Freikarten auf Lebenszeit, Einladung zu allen offiziellen Veranstaltungen; man war eben Gast in einem kaiserlichen Hause geworden, und ich erinnere mich noch an die feierliche Art, mit der meine eigene Einbeziehung geschah. Am Vormittag hatte mich der Direktor des Burgtheaters zu sich ins Büro gebeten, um mir – nach zuvorigem Glückwunsch – mitzuteilen, daß mein Drama vom Burgtheater akzeptiert worden sei; als ich abends nach Hause kam, fand ich seine Visitenkarte in meiner Wohnung. Er hatte mir, dem Sechsundzwanzigjährigen, einen formellen Gegenbesuch gemacht, ich war als Autor der kaiserlichen Bühne schon durch die bloße Annahme ein ›gentleman‹ geworden, den ein Direktor des kaiserlichen Instituts au pair zu behandeln hatte. Und was im Theater geschah, betraf indirekt jeden einzelnen, sogar den, der damit gar keinen direkten Zusammenhang hatte. Ich erinnere mich zum Beispiel aus meiner frühesten Jugend, daß unsere Köchin eines Tages mit Tränen in den Augen in das Zimmer stürzte: eben habe man ihr erzählt, Charlotte Wolter – die berühmteste Schauspielerin des Burgtheaters – sei gestorben. Das Groteske dieser wilden Trauer bestand selbstverständlich darin, daß diese alte, halb analphabetische Köchin nicht ein einziges Mal selbst im vornehmen Burgtheater gewesen war und die Wolter nie auf der Bühne oder im Leben gesehen hatte; aber eine große nationale Schauspielerin gehörte in Wien so sehr zum Kollektivbesitz der ganzen Stadt, daß selbst der Unbeteiligte ihren Tod als eine Katastrophe empfand. Jeder Verlust, das Weggehen eines beliebten Sängers oder Künstlers verwandelte sich unaufhaltsam in Nationaltrauer. Als das ›alte‹ Burgtheater, in dem Mozarts ›Hochzeit des Figaro‹ zum erstenmal erklungen, demoliert wurde, war die ganze Wiener Gesellschaft wie bei einem Begräbnis feierlich und ergriffen in den Räumen versammelt; kaum war der Vorhang gefallen, stürzte jeder auf die Bühne, um wenigstens einen Splitter von den Brettern, auf denen ihre geliebten Künstler gewirkt, als Reliquie nach Hause zu bringen, und in Dutzenden von Bürgerhäusern sah man noch nach Jahrzehnten diese unscheinbaren Holzsplitter in kostbarer Kassette bewahrt, wie in den Kirchen die Splitter des heiligen Kreuzes. Wir selbst handelten nicht viel vernünftiger, als der sogenannte Bösendorfer Saal niedergerissen wurde.

      An sich war dieser kleine Konzertsaal, der ausschließlich der Kammermusik vorbehalten war, ein ganz unbedeutendes, unkünstlerisches Bauwerk, die frühere Reitschule des Fürsten Liechtenstein, und nur durch eine Holzverschalung völlig prunklos zu musikalischen Zwecken adaptiert. Aber er hatte die Resonanz einer alten Violine, er war den Liebhabern der Musik geheiligte Stätte, weil Chopin und Brahms, Liszt und Rubinstein darin konzertiert, weil viele der berühmten Quartette hier zum ersten Male erklungen. Und nun sollte er einem neuen Zweckbau weichen; es war unfaßbar für uns, die hier unvergeßliche Stunden erlebt. Als die letzten Takte Beethovens verklangen, vom Roséquartett herrlicher als jemals gespielt, verließ keiner seinen Platz. Wir lärmten und applaudierten, einige Frauen schluchzten vor Erregung, niemand wollte es wahrhaben, daß es ein Abschied war. Man verlöschte im Saal die Lichter, um uns zu verjagen. Keiner von den vier oder fünfhundert der Fanatiker wich von seinem Platz. Eine halbe Stunde, eine Stunde blieben wir, als ob wir es erzwingen könnten durch unsere Gegenwart, daß der alte geheiligte Raum gerettet würde. Und wie haben wir als Studenten mit Petitionen, mit Demonstrationen, mit Aufsätzen darum gekämpft, daß Beethovens Sterbehaus nicht demoliert würde! Jedes dieser historischen Häuser in Wien war wie ein Stück Seele, das man uns aus dem Leibe riß.

      Dieser Fanatismus für die Kunst und insbesondere für die theatralische Kunst ging in Wien durch alle Stände. An sich war Wien durch seine hundertjährige Tradition eigentlich eine deutlich geschichtete und zugleich – wie ich einmal schrieb – wunderbar orchestrierte Stadt. Das Pult gehörte noch immer dem Kaiserhaus. Die kaiserliche Burg war das Zentrum nicht nur im räumlichen Sinn, sondern auch im kulturellen der Übernationalität der Monarchie. Um diese Burg bildeten die Palais

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