Montag oder Die Reise nach innen. Peter Schmidt

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Montag oder Die Reise nach innen - Peter Schmidt

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Realität?

      Ich begann mich vor meiner selbstgewählten Aufgabe zu fürchten. Auch die abstrakte Kunst stellte nur selten Ausgeglichenheit und Harmonie dar, sondern meist eine verfremdete Wirklichkeit, die auf geheimnisvolle Spannungen und Stimmungen zusammenschrumpfte, den Konvulsionen der Wirklichkeit nicht ganz unähnlich. Offenbar war ich auf dem besten Wege, mich wie ein Zahnarzt, der sein Leben lang mit faulen oder vereiterten Zähnen, mit Zahnstümpfen, Parodontose und anderen Entzündungen des Mundraums zu tun hat, ohne Not in die Schattenbereiche des Lebens zu begeben.

      Boschs klaffende rote Wunde am Bauch machte mir deutlich, wie sehr der Künstler an seiner Kunst litt.

      Als ich an diesem Punkt angelangt war, brach ich meine Besuche im Museum ab. Ich saß tagelang in meinem Zimmer – es waren Weihnachtsferien –, würdigte den protzigen Christbaum in der Eingangshalle keines Blickes, weil er mir mit einem Male als das erschien, was er wirklich war: die hohle, überaus kitschige Bemäntelung eines alten Brauches, unter dessen Oberfläche sich vielleicht eine Wahrheit verbarg, aber eine Wahrheit, an die niemand glaubte.

      Mein Vater pflegte unsere Geschenke nicht nur im ganzen Haus zu verstecken, sondern sie auch noch, um uns irrezuführen, in falsche Kartons zu verpacken – die Stereoanlage in den Staubsaugerkarton, meine Kunstbücher in die Verpackung einer Kaffeemaschine –, und dieses Spielchen trieb er noch nach dem Fest, weil er völlig die Orientierung verloren hatte, wo sich was befand. Währenddessen betäubte Anja die Wände mit klassischer Rockmusik. Die Tapeten knisterten und feiner Staub rieselte aus den Mauerfugen.

      Ich studierte lustlos in meinen Physikbüchern (man hatte mir ungefähr einen halben Zentner davon geschenkt, um die Angelegenheit ein für allemal für die Wissenschaft zu entscheiden), denn selbst die Physik offenbarte nichts weiter als das Chaos. Daran konnten auch ein paar in der Praxis verlässliche Naturgesetze wenig ändern.

      Freud hätte behauptet, ich litte an meinem Über-Ich. Mein Es sei der Lust am Malen und am Künstlertum verfallen, doch Moral und Realität drängten diese sublimierte Libido zurück. Aber wie viele moderne Irrenärzte glaube ich dem alten Wiener Charmeur kein Wort. Er irrt sich selten völlig, doch er setzt die Akzente falsch. Der Blickwinkel ist verschoben. Nicht nur meine Professur für die Erforschung höherer Bewusstseinszustände belehrte mich darüber, dass der alte Knabe mit dem Sextick einem verhängnisvollen Irrtum zum Opfer gefallen war.

      4

      Kennen Sie diese Leute, die so herumstolzieren, als wüssten sie irgend etwas? Als seien sie im Besitze einer geheimen Wahrheit?

      Als beherrschten sie eine wichtige Regel? Nicht irgendeine Regel, sondern die Regel par excellence?

      Die Welt ist voll davon. Haben Sie erst einmal den Blick auf diesen merkwürdigen Sachverhalt gelenkt, dann fällt es Ihnen plötzlich wie Schuppen von den Augen.

      Sie werden feststellen, dass die meisten Menschen irgendwelche Regeln verkünden, von so singulären Erscheinungen wie Napoleons Verbannung, Gorbatschows Sturz oder der Verspätung des Eiermanns mal abgesehen. Und jeder hat eine unfehlbare Einsicht in die Evidenz seiner Regeln.

      Alle diese Methoden sollen Sie glücklich machen, Ihnen zu einem bequemen, von Leiden befreiten Leben verhelfen. Unser gesamtes Erziehungssystem beruht darauf. Aber Sie können solche Regeln ebenso gut an der Theke wie am Stammtisch und im Parlament hören. Jeder weiß es besser.

      Wenn mein Alter sagte: »Marc, du verdammter Stinker, wer zum Teufel hat schon wieder seine dreckigen Socken im Badezimmer herumliegenlassen?« – dann meinte er damit, abgesehen von der bloß rhetorischen Frage: Es macht dich und uns alle glücklicher, wenn das Zeug mit seinem Käsegeruch nicht unnütz im Haus herumliegt.

      Aber was, wenn irgend jemand meine Socken gern roch? Wo blieben dann seine absolut gültigen Regeln?

      Diese Frage kann man jedem stellen, der einem irgendwelche Rezepte verkaufen will. Sei es nun die Regel, wie man keine Pickel kriegt, wie man sich vor Selbstmord oder Geschlechtskrankheiten schützt, wie man seine Depressionen los wird oder Verstimmungen überhaupt erst einmal als das identifiziert, was sie sind.

      Tatsächlich scheint es solche Regeln auch zu geben. Nur sind sie alles andere als allgemeingültig. Sie haben für den einzelnen keine Spur von Plausibilität, solange sie sich nicht in der Praxis bewähren. Und diese Bewährung kann im nächsten Moment in ihr Gegenteil umschlagen.

      Ich war damals schon ein beachtlicher Erkenntnistheoretiker, deshalb warf es mich kaum aus der Bahn, als mir meine Mutter die goldene Regel für meine weitere Ausbildung verkündete:

      »Wir haben über deine berufliche Zukunft nachgedacht, Marc, und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es besser wäre, wenn ein Privatlehrer deine Ausbildung übernähme.«

      »Ein Privatlehrer? Du meinst in Physik?«

      »Nein, allgemein.«

      »Darf ich fragen, womit ich diese Auszeichnung verdiene? Meine Noten sind doch ganz ordentlich?«

      »Deine Lehrer glauben sogar einen – nun bleib mal auf dem Teppich – genialischen Zug bei dir zu erkennen. Allerdings mit einem deutlichen Hang zur Verwahrlosung, was deine schulischen Leistungen anbelangt.«

      »Anders ausgedrückt: Sie halten mich für begabt, aber faul?«

      »Ein guter Lehrer könnte dir den Einstieg ins Studium erleichtern. Wir möchten, dass du mit einer erstklassigen Abiturnote abschließt.«

      Also daher wehte der Wind! Sie wollten niemanden, der beim Abschluss kläglich versagte. Wahrscheinlich würde das meinen Vater ein halbes Dutzend Aufträge für Hochhäuser und meine Mutter ihren Sitz im Parlament kosten.

      »Und was sagt die Schulbehörde dazu?«

      »Kein Problem, es ist ja nur eine Zusatzausbildung. Sie wird dich von der Straße holen, Marc. Das ist Vaters größte Sorge. Er macht sich Gedanken darüber, wo du dich nach dem Gymnasium herumtreibst.«

      »Ich sitze meist in der Bibliothek, um meine Physikkenntnisse zu vervollständigen.«

      »Tatsächlich?« Sie warf mir eine ungläubigen Blick zu – so ungläubig wie manche Frauen, wenn ihr Angetrauter jeden Eid auf seine eheliche Treue schwört.

      »Deshalb könnt ihr euch das Geld für den Burschen sparen.«

      »Das würde die Sache allerdings ändern. Falls sich herausstellen sollte, dass du über ausreichende Kenntnisse verfügst, werden wir es einfach bei der Probezeit belassen.«

      »Heißt das, ihr habt schon jemanden für mich eingestellt? Wer ist den der Glückliche?«

      »Eine junge Physikstudentin.«

      Ich muss ziemlich entgeistert ausgesehen haben damals. Die Überraschung war ihnen allerdings gelungen. Irgendein pickeliges Wesen ohne Hüften mit dicken Brillengläsern, dachte ich. Oder noch schlimmer: mit Schlabberpullover ohne BH und kurzgeschnittenen Fingernägeln, das dauernd Pistazien kaute. Welches Mädchen, das gut aussieht, studiert schon Physik?

      »Frag mich jetzt bitte nicht, wie sie aussieht, Marc. Ausgesprochen hübsch.«

      »Im Ernst? Ihr habt sie doch nicht nach Schönheit ausgesucht?«

      »Man sagt, Karola sei die fähigste Studentin

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