Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski
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Читать онлайн книгу Die Brüder Karamasow - Fjodor Dostojewski страница 59
»Werden wir das jemals schauen?« entfuhr es ihm unwillkürlich.
»Werden wir das je schauen, werden wir das je schauen?« wiederholten um ihn herum die Mönche.
Vater Paissi zog erneut die Augenbrauen zusammen und bat alle, wenigstens vorläufig mit niemand darüber zu sprechen, »bis die Sache noch weitere Bestätigung findet. In den weltlichen Dingen steckt viel Leichtfertigkeit, der Fall kann sich auch auf natürliche Weise zugetragen haben«, fügte er vorsichtig, wie zur Erleichterung seines Gewissens, hinzu. Eigentlich glaubte er aber selbst nicht an seinen Vorbehalt, und das merkten auch die Zuhörer sehr wohl. Noch in derselben Stunde wurde »das Wunder« natürlich dem ganzen Kloster und sogar vielen Laien, die zur Liturgie gekommen waren, bekannt.
Den größten Eindruck schien das Wunder auf einen Mönch zu machen, der einen Tag zuvor aus dem Kloster »Zum heiligen Silvester«, einem kleinen Kloster in Obdorsk im hohen Norden, in unser Kloster gekommen war. Er hatte sich am vorigen Tag, neben Frau Chochlakowa stehend, vor dem Starez verbeugt und diesen mit einem Hinweis auf die geheilte Tochter der Dame tief ergriffen gefragt: »Wie machen Sie es nur möglich, solche Taten zu vollbringen?«
Er befand sich ohnehin bereits in einer gewissen ratlosen Verwunderung und wußte nicht recht, was er glauben sollte. Schon am Abend vorher hatte er Vater Ferapont, ebenfalls ein Mönch unseres Klosters, in dessen separater Zelle hinter dem Bienenstand besucht, und diese Begegnung hatte außerordentlich auf ihn gewirkt und ihn zutiefst erschreckt; Vater Ferapont war ein hochbejahrter Mönch, ein großer Faster und Schweiger, ein Gegner des Starez Sossima und des Starzentums überhaupt, das er für eine schädliche und leichtfertige Neuerung hielt. Dieser Gegner war gefährlich, obwohl er fast mit niemand sprach; gefährlich besonders deshalb, weil einige Mitglieder der Brüderschaft derselben Ansicht waren wie er und weil ihn sehr viele Besucher als großen Gerechten und Glaubenseiferer verehrten, wenn sie ihn auch für einen religiösen Irren hielten. Doch gerade dieser religiöse Irrsinn gewann, ihm ihre Sympathie. Zum Starez Sossima ging Vater Ferapont nie. Er wohnte zwar in der Einsiedelei, aber man belästigte ihn nicht sonderlich mit den dort geltenden Geboten, wiederum weil er sich geradezu wie ein religiöser Irrer benahm. Er war mindestens fünfundsiebzig Jahre alt und wohnte hinter den Bienenstöcken der Einsiedelei, in einer alten, halbzerfallenen, hölzernen Zelle in einem Mauerwinkel; sie war bereits im vorigen Jahrhundert für einen anderen großen Faster und Schweiger errichtet worden, für Vater Jona, der es auf hundertundfünf Jahre gebracht hatte und von dessen Taten man sich im Kloster und in der Umgegend noch immer seltsame Geschichten erzählte. Vater Ferapont hatte vor sieben Jahren endlich durchgesetzt, daß auch er in dieser abgelegenen kleinen Zelle, die eigentlich eine einfache Hütte war, wohnen durfte. Die Hütte hatte allerdings Ähnlichkeit mit einer Kapelle, denn sie enthielt viele gestiftete Heiligenbilder, und vor diesen brannten gestiftete Ewige Lämpchen, die zu beaufsichtigen gewissermaßen Vater Feraponts Amt war. Er aß, wie man sagte, und das war, die Wahrheit, in drei Tagen nicht mehr als zwei Pfund Brot, das ihm alle drei Tage der ebenfalls in der Nähe der Bienenstöcke wohnende Imker brachte; auch zu ihm sprach Vater Ferapont selten ein Wort. Diese vier Pfund Brot bildeten zusammen mit dem sonntäglichen Weihbrot, das der Abt dem »Gerechten« regelmäßig nach der Spätmesse sandte, seine ganze Wochennahrung. Das Wasser in seinem Krug aber wurde täglich erneuert. Zum Gottesdienst erschien er nur selten. Verehrer, die ihn besuchten, sahen ihn manchmal den ganzen Tag im Gebet verharren, ohne daß er sich von den Knien erhob oder um sich blickte. Wenn er sich wirklich einmal in ein Gespräch einließ, so sprach er kurz, abgehackt, seltsam und beinahe grob. Es kam jedoch, wenn auch sehr selten, vor, daß er sich vor den Besuchern gesprächig zeigte; meist aber sprach er nur ein seltsames Wort, das dem Besucher ein Rätsel aufgab und das er, allen Bitten zum Trotz, nicht erklärte. Einen geistlichen Rang hatte er nicht, er war nur ein einfacher Mönch. Es ging das sonderbare Gerücht, allerdings nur unter ungebildeten Leuten, Vater Ferapont verkehre mit himmlischen Geistern und spreche nur mit ihnen, deshalb sei er Menschen gegenüber so schweigsam.
Nachdem sich der Mönch aus Obdorsk zu den Bienenstöcken hingefunden hatte, begab er sich nach den Hinweisen des Imkers, auch eines schweigsamen, finsteren Mönchs, in jenen Winkel, wo Vater Feraponts Zelle stand. »Vielleicht wird er mit dir, einem Fremden, reden. Es kann aber auch sein, daß du kein Wort zu hören bekommst«, sagte ihm der Imker im voraus. Der Mönch näherte sich der Zelle, wie er später selbst erzählte, mit großer Furcht. Es war ziemlich spät. Vater Ferapont saß vor der Tür der Zelle auf einem niedrigen Bänkchen. Über ihm rauschte eine mächtige Ulme. Die Abendkühle war bereits fühlbar. Der Mönch aus Obdorsk fiel vor dem »Gerechten« nieder, verbeugte sich bis zur Erde und bat um seinen Segen.
»Willst du, daß ich ebenfalls vor dir niederfalle, Mönch?« sagte Vater Ferapont. »Steh auf!«
Der Mönch erhob sich.
»Segne mich und sei gesegnet! Setze dich neben mich! Woher kommst du?«
Am meisten überraschte den Mönch, daß Vater Ferapont trotz seines zweifellos strengen Fastens und hohen Alters noch recht rüstig schien. Er war groß, hielt sich ungebeugt und hatte ein zwar mageres, aber doch frisches, gesundes Gesicht. Unzweifelhaft besaß er noch erstaunliche körperliche Kraft. Er war von athletischer Konstitution; trotz seines Alters war sein dichtes, früher schwarzes Kopf- und Barthaar noch nicht einmal vollständig ergraut. Seine Augen waren grau, groß und leuchtend, dabei auffallend weit geöffnet. Er trug einen langen rötlichen Bauernrock aus grobem »Sträflingstuch«, wie man früher sagte, und als Gurt einen dicken Strick. Hals und Brust waren nackt. Unter dem Rock hing ein dickes Leinwandhemd hervor, das seit Monaten nicht gewechselt und daher fast schwarz war. Angeblich trug er unter dem Rock dreißig Pfund schwere Büßerketten. Die nackten Füße steckten in alten Stiefeln, die beinahe auseinanderfielen.
»Aus einem kleinen Kloster in Obdorsk, ›Zum Heiligen Silvester‹«, antwortete der fremde Mönch demütig, während er den Einsiedler mit seinen flinken, neugierigen, etwas ängstlichen Äuglein betrachtete.
»Ich habe bei deinem Silvester gewohnt. Ist er gesund?«
Der Mönch stutzte.
»Unvernünftige Menschen seid ihr! Wie haltet ihr die Fasten ein?«
»Unsere Speisenordnung, entsprechend der alten Einsiedlerregel, ist folgende. In den Großen Fasten gibt es montags, mittwochs und freitags weder Mittag- noch Abendessen. Dienstags und donnerstags bekommt die Brüderschaft Weißbrot, Honigtrunk, Brombeeren oder Salzkohl und Haferbrei. Sonnabends Weißkohlsuppe, Nudeln aus Erbsenmehl, Grütze mit Hanfsaft, alles mit Öl. Sonntags gibt es zur Kohlsuppe trockenen Fisch und Grütze. In der Karwoche vom Montag bis Sonnabendabend, sechs Tage lang, Brot und Wasser, nur ungekochte Pflanzenkost, und auch das nur enthaltsam; wenn möglich, sollte man überhaupt nicht alle Tage Nahrung zu sich nehmen. Am Karfreitag wird nichts gegessen, ebenso am folgenden Sonnabend bis zur dritten Stunde, dann genießen wir etwas Brot mit Wasser und trinken eine Tasse Wein. Am Gründonnerstag essen wir Eingemachtes ohne Öl und trinken dazu bisweilen ein wenig Wein; denn laut Konzil zu Laodicea1