Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski

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Die Brüder Karamasow - Fjodor Dostojewski

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gewisse Leute gern eine genaue Schilderung von mir geben möchten. Das geht an Ihre Adresse, Pjotr Alexandrowitsch. Ihnen aber, heiligstes Wesen, sage ich nur das eine: Ich fließe über vor Entzücken!« Er stand auf und sagte mit erhobenen Händen: »Selig der Leib, der dich trug, und die Brüste, die dich tränkten. Besonders die Brüste! Sie haben soeben durch Ihre Bemerkung: ›Schämen Sie sich nicht so sehr vor sich selbst; denn davon kommt alles das!‹ bewiesen, daß Sie mich durchschaut haben. Wenn ich nämlich irgendwo unter Leuten bin, will es mir immer scheinen, als sei ich gemeiner als sie, als hielten mich alle für einen Possenreißer. Und dann sage ich mir: Also gut, spiele ich eben den Possenreißer; ich fürchte mich nicht vor eurem Urteil, ihr seid doch allesamt gemeiner als ich! Darum bin ich dann ein Possenreißer: aus Scham, großer Starez, aus Scham. Und einzig und allein aus Mißtrauen schlage ich Krakeel. Könnte ich überzeugt sein, daß mich alle für den liebenswürdigsten und klügsten Menschen halten – Herrgott, was wäre ich für ein guter Mensch! Meister!« rief er plötzlich. und fiel auf die Knie: »Was muß ich tun, damit ich das ewige Leben erhalte?«

      Auch jetzt war schwer zu entscheiden, ob er Possen trieb oder wirklich gerührt war.

      Der Starez richtete seine Augen auf ihn und antwortete lächelnd: »Sie wissen längst selbst, was Sie tun müssen. Sie haben genug Verstand. Geben Sie sich nicht der Trunksucht hin, zügeln Sie Ihre Zunge, frönen Sie nicht der Sinnenlust, vergöttern Sie nicht das Geld und schließen Sie Ihre Branntweinschenken. Sofern Sie nicht alle schließen können, wenigstens zwei oder drei. Die Hauptsache aber, das Allerwichtigste: Lügen Sie nicht!«

      »Sie meinen das von Diderot, nicht wahr?«

      »Nein, nicht nur das von Diderot. Vor allen Dingen: belügen Sie nicht sich selbst! Wer sich selbst belügt und an seine eigene Lüge glaubt, der kann zuletzt keine Wahrheit mehr unterscheiden, weder in sich noch um sich herum; er achtet schließlich weder sich selbst noch andere. Wer aber niemand achtet, hört auch auf zu lieben und ergibt sich den Leidenschaften und rohen Genüssen, um sich auch ohne Liebe zu beschäftigen und zu zerstreuen. Er sinkt unweigerlich auf die Stufe des Viehs hinab, und all das, weil er sich und die Menschen unaufhörlich belogen hat. Wer sich selbst belügt, ist auch leichter beleidigt als andere. Sich beleidigt fühlen, ist manchmal sehr angenehm, nicht wahr? Ein solcher Mensch weiß genau, daß ihn niemand beleidigte, daß er sich die Beleidigung vielmehr selber ausdachte und mit Lügen ausschmückte und so aus der Mücke einen Elefanten machte. Er weiß das selbst und ist doch der erste, der sich beleidigt fühlt, beleidigt in einem Maße, daß er Vergnügen und Lust dabei empfindet. Und von da ist es dann nicht weit bis zu wirklicher Feindschaft ... Aber bitte, erheben Sie sich doch und setzen Sie sich; das sind doch auch nur verlogene Gesten!«

      »Gottgefälliger Mensch! Lassen Sie mich Ihre Hand küssen!« rief Fjodor Pawlowitsch, sprang auf und drückte dem Starez schnell einen schmatzenden Kuß auf die magere Hand. »Ja, ja, so ist es, genauso; es ist angenehm, sich beleidigt zu fühlen, Sie haben das so schön gesagt, wie ich es noch nie gehört habe. Ganz so, genauso habe ich mich mein Leben lang beleidigt gefühlt, bis ich Genuß empfand. Auch aus ästhetischen Gründen, denn es ist manchmal auch schön, beleidigt zu sein. Das haben Sie noch vergessen, großer Starez: schön! Das werde ich mir ins Notizbuch schreiben! Und gelogen habe ich mein Leben lang, täglich und stündlich. Wahrlich, ich bin die Lüge selbst, ich bin der Vater der Lüge! Nein, nicht der Vater der Lüge, da habe ich mich im Ausdruck vergriffen, vielleicht eher der Sohn der Lüge, das reicht ja auch schon. Nur wissen Sie, mein Schutzengel: So etwas wie das über Diderot darf man doch manchmal sagen? So etwas kann doch keinen Schaden anrichten? Wohl aber sagt man manches andere, und das schadet dann. Apropos, großer Starez, das hätte ich fast vergessen – schon seit drei Jahren habe ich mir vorgenommen, mich hier zu erkundigen, herzufahren und dringend um Auskunft zu bitten. Verbieten Sie bloß diesem Pjotr Alexandrowitsch, mich zu unterbrechen. Wonach ich fragen möchte, ist dies: Ist es wahr, großer Vater, was irgendwo in den ›Lebensbeschreibungen der Heiligen‹ über einen heiligen Wundertäter berichtet wird? Er soll wegen des Glaubens gemartert worden sein, und als man ihm den Kopf abgeschlagen hatte, soll er aufgestanden sein, seinen Kopf aufgehoben und ihn ›liebevoll geküßt‹ haben. Er soll lange so mit dem Kopf umhergegangen sein; ihn ›liebevoll küssend‹. Ist das nun wahr oder nicht, meine ehrenwerten Väter?«

      »Nein, das ist nicht wahr«, sagte der Starez.

      »Es steht nichts Derartiges in den ›Lebensbeschreibungen der Heiligen‹. Von welchen Heiligen soll denn das geschrieben stehen?« fragte einer der Priestermönche, der Vater Bibliothekar.

      »Das weiß ich selbst nicht, weiß ich wirklich nicht. Ich bin getäuscht worden; man hat es mir erzählt. Ich habe es gehört, und wissen Sie, wer es erzählt. hat? Hier, Pjotr Alexandrowitsch Miussow, der sich soeben über Diderot ereifert hat, der hat's erzählt.«

      »Ich habe Ihnen das nie erzählt; ich rede überhaupt nicht mit Ihnen.«

      »Das ist richtig, mir haben Sie es nicht erzählt, wohl aber in einer Gesellschaft, in der ich anwesend war, vor drei oder vier Jahren. Ich erwähne das, weil Sie durch diese lächerliche Geschichte meinen Glauben erschüttert haben, Pjotr Alexandrowitsch. Sie wußten es nicht; aber ich bin mit erschüttertem Glauben nach Hause zurückgekehrt, und seitdem ist mein Glauben immer mehr wankend geworden. Ja, Pjotr Alexandrowitsch, Sie waren die Ursache eines verhängnisvollen Falles. Das ist denn doch was anderes als das Geschichtchen über Diderot!«

      Fjodor Pawlowitsch hatte sich in ein hitziges Pathos hineingesteigert; doch war es allen klar, daß er sich wieder nur verstellte. Trotzdem fühlte sich Miussow tief verletzt.

      »Was ist das für Unsinn; das ist alles lauter Unsinn!« brummte er. »Ich habe es vielleicht wirklich einmal erzählt, aber nicht Ihnen. Es ist mir selbst erzählt worden. Ich hörte es in Paris von einem Franzosen; er sagte, es stehe in unseren ›Lebensbeschreibungen der Heiligen‹ und werde bei der Messe vorgelesen ... Es war ein sehr gelehrter Mann, der sich besonders mit dem Studium der Statistik Rußlands beschäftigte und lange in Rußland gelebt hatte ... Ich selbst habe die ›Lebensbeschreibungen der Heiligen‹ nicht gelesen und werde sie auch nicht lesen. Was plaudert man nicht alles bei Tische. Wir speisten damals gerade ...«

      »Ja, Sie speisten damals gerade, und ich verlor meinen Glauben!« reizte ihn Fjodor Pawlowitsch.

      »Was schert mich Ihr Glaube!« schrie Miussow, gewann dann aber schnell die Selbstbeherrschung zurück und fuhr voll Verachtung fort: »Sie besudeln buchstäblich alles, womit Sie in Berührung kommen.«

      Der Starez erhob sich auf einmal von seinem Platz.

      »Verzeihen Sie, meine Herren, daß ich Sie für ein Weilchen verlasse, nur auf ein paar Minuten«, wandte er sich an die Besucher. »Es warten Leute auf mich, die schon vor Ihnen da waren. Sie aber bitte ich, nicht zu lügen«, fügte er, zu Fjodor Pawlowitsch gewandt, mit heiterer Miene hinzu.

      Er verließ die Zelle; Aljoscha und der Novize sprangen hinzu, um ihn die Stufen vor der Tür hinunterzuführen. Aljoscha atmete nur mühsam; er war froh hinauszukommen, aber er freute sich auch, daß der Starez sich nicht gekränkt fühlte, sondern heiter war.

      Der Starez wollte sich zur Galerie begeben, um die Wartenden zu segnen. Aber Fjodor Pawlowitsch hielt ihn doch noch an der Tür der Zelle fest.

      »Gottgefälligster Mensch!« rief er gefühlvoll. »Erlauben Sie mir, Ihnen noch einmal die Hand zu küssen! Mit Ihnen kann man noch reden, mit Ihnen kann man leben! Sie glauben wohl, daß ich immer so dumm bin und den Possenreißer spiele? So sollen Sie wissen, daß ich mich die ganze Zeit absichtlich verstellte, um Sie auszuforschen. Ich habe die ganze Zeit an Ihnen herumgetastet, ob man wohl mit Ihnen leben könnte, ob mein bescheidenes Persönchen neben Ihrer stolzen Person einen Platz fände. Ich stelle Ihnen ein Belobigungszeugnis aus: Man kann mit Ihnen leben.

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