Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie.. Wilhelm Bölsche
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. - Wilhelm Bölsche страница 2
So rund ausgesprochen, hat die Forderung, die darin liegt, alle Eigenschaften, um den Kritiker oder Dichter, dem die Poesie als ein leuchtendes Palladium der Menschheit, das jede Zeit auf den höchsten Platz ihres intellectuellen Könnens zu stellen verpflichtet sein soll, eine wahre Herzenssache ist, zu ernstem, wohlwollendem Nachdenken zu zwingen.
Angesichts der gestellten Wahl muss er die ganze, schwere Verantwortung empfinden, die in einem leichtsinnig heraufbeschworenen Streite zwischen Poesie und Naturwissenschaften läge. Er wird sich nicht stören an die werthlose Phrase, dass ein solcher Conflict nothwendig im Wesen der beiden Geistesgebiete begründet sei. Er wird vielmehr den Blick haften lassen auf den starken Meistern der Vergangenheit, auf dem heldenkühnen Ringen Schiller's, die Wahrheiten der Philosophie, die doch in der speciellen Form auch mit dem Wissen zusammen fiel, dem poetischen Ideal zu vermählen, auf dem unablässigen Forschen Göthe's, der in den Wahlverwandtschaften – fehlerhaft vielleicht, aber doch in sicherem Ahnen der Methode – die Arbeit des Forschers auf dem Gebiete der Seelenkunde im Dichterwerke zu verwerthen suchte, auf dem lichten Bau der physischen Weltbeschreibung des greisen Alexander von Humboldt, in deren kosmischem Rahmen unter der Form der dichterischen Naturanschauung die ganze Poesie mit Leichtigkeit eine Stelle gefunden hätte. Dürfen wir stehen bleiben, wo jene, denen die ganze Fülle unserer Offenbarung im Naturgebiete noch versagt war, unentwegt den Wanderstab zum Vorwärtsschreiten ansetzten? Gewiss steckt in den erhitzten Parteien des Tages die lebhafteste Neigung zu schwerem Kampfe; sollen wir die einzige noch mögliche Gelegenheit zur Versöhnung zurückweisen, – zu einer Versöhnung, die vielleicht zugleich einen Fortschritt für die Poesie bedeutet?
Ich meine, so, wie die Frage gestellt ist, giebt es nur eine Antwort. Es handelt sich nicht um Namen, um Nationalitäten, um Meister und Jünger einer Schule, sondern um zwei Dinge, die vor aller Augen sind: eine Wissenschaft, die energisch vorgeht und neue Begriffe schafft, und eine Literatur, die zurückbleibt, und mit Begriffen arbeitet, die keinen Sinn und Verstand mehr haben. Thatsächlich hat denn auch ein beträchtlicher Theil unserer modernen Dichter die richtige Antwort gefunden, und es kommt hier nicht darauf an, ob Dieser ernste und wohlüberlegte Entschlüsse daran angeknüpft oder Jener bloss in kindlicher Freude ein polizeiwidrig lautes Jubelgeschrei über sein findiges Genie dazu ausgestossen hat. Man hat sich geeinigt über den Satz: Wir müssen uns dem Naturforscher nähern, müssen unsere Ideen auf Grund seiner Resultate durchsehen und das Veraltete ausmerzen.
Das Erste, worauf man im Verfolgen dieses Gedankens kam, war ein Satz, der ebenso einfach und selbstverständlich war, wie er paradox klang. Jede poetische Schöpfung, die sich bemüht, die Linien des Natürlichen und Möglichen nicht zu überschreiten und die Dinge logisch sich entwickeln zu lassen, ist vom Standpuncte der Wissenschaft betrachtet nichts mehr und nichts minder als ein einfaches, in der Phantasie durchgeführtes Experiment, das Wort Experiment im buchstäblichen, wissenschaftlichen Sinne genommen.
Daher der Name »Experimental-Roman«, und daher eine ungeheuerliche Begriffsverwirrung bei allen Kritikern und Poeten, die weder wussten, was man unter einem wissenschaftlichen Experimente, noch was man unter dichterischer Thätigkeit verstand. Der Mann, der das Wort populär gemacht hat, Zola, ist selbst unschuldig an der Verwirrung der Geister. Nur hat auch er den Fehler nebenher begangen, die Definition eines Kunstwerks als Experiment nicht einzuschränken durch die Worte »vom wissenschaftlichen Standpuncte aus«, womit alles klarer und einfacher wird. Vom moralischen Standpuncte beispielsweise will die Definition gar nichts besagen, denn was ist moralisch ein »Experiment«? Aber wissenschaftlich passt die Sache. Sehen wir das unheimliche Wort näher an.
Der Dichter, der Menschen, deren Eigenschaften er sich möglichst genau ausmalt, durch die Macht der Umstände in alle möglichen Conflicte gerathen und unter Bethätigung jener Eigenschaften als Sieger oder Besiegte, umwandelnd oder umgewandelt, daraus hervorgehen oder darin untergehen lässt, ist in seiner Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der allerlei Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgrade bringt und den Erfolg beobachtet. Natürlich: der Dichter hat Menschen vor sich, keine Chemikalien. Aber, wie oben ausgesprochen ist, auch diese Menschen fallen in's Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre Leidenschaften, ihr Reagiren gegen äussere Umstände, das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen, die der Forscher ergründet hat und die der Dichter bei dem freien Experimente so gut zu beachten hat, wie der Chemiker, wenn er etwas Vernünftiges und keinen werthlosen Mischmasch herstellen will, die Kräfte und Wirkungen vorher berechnen muss, ehe er an's Werk geht und Stoffe combinirt.
Wer sich die Mühe nehmen will, einen ganz flüchtigen Blick auf das Beste zu werfen, was Shakespeare oder Schiller oder Göthe geschaffen, der wird den Faden des psychologischen Experiments in jeder dieser Dichtungen klar durchschimmern sehen. Bloss jene Voraussetzungen waren vielfach etwas andere, und hier ist denn eben der Punct, wo der Einfluss der modernen Wissenschaft sich als ein neues Element geltend machen und der Realismus, dessen Theorie wir zugegeben haben, practisch werden soll. Es gilt, neue Prämissen für die weitern Experimente, die wir machen wollen, aufzustellen oder besser, sie uns von der Naturwissenschaft aufstellen zu lassen. Hier aber, beim Eintritt in die Praxis, wird die ganze Sache sehr schwierig. Wir haben bisheran einer allgemeinen Erörterung Raum gegeben. Der allgemeine Zustand des Denkens in unserer Zeit und des Verhältnisses von Poesie und Forschung zu einander hat uns ein Geständniss abgezwungen, indem er uns ein Dilemma zeigte, aus dem es nur einen Ausweg gab. Wir haben uns einverstanden erklärt mit der versöhnlichen Richtung eines gesunden Realismus und sind vorgedrungen bis an den Fleck, wo die Berührung der exacten Wissenschaften mit derjenigen Definition der Poesie, die von allen am wissenschaftlichsten klingt, endlich stattfinden soll. Alle Vorfragen sind damit erledigt, und ich trete jetzt an das heran, was eigentlich den Kern des Ganzen ausmacht und zugleich ein solches Gewebe ernster Schwierigkeiten aufweist, dass ich eine eingehende Betrachtung derselben für die nothwendige Basis jeder realistischen Dichtung sowohl, wie jeder realistischen Aesthetik halte.
Die Prämissen des poetischen Experiments: das sagt in einem Worte alles. Hier verknoten sich Naturwissenschaft und Poesie.
Wohlverstanden: diese Prämissen umschliessen nicht die Naturgeschichte des poetischen Genius selbst, eine Sache, die ja auch in die Aesthetik hineingehört, die aber mit dem, was ich meine, direct nichts zu schaffen hat. Geniale Anlage muss der Mensch besitzen, um überhaupt als Dichter auftreten zu können, und zwar eine ganz bestimmte Form genialer Anlage, die sich von der für andere Geistesgebiete individuell unterscheidet. Jene andern Prämissen, die erworbenes Wissen darstellen, verhelfen ihm bloss in zweiter Instanz dazu, sein schöpferisches Wollen nach vernünftigen Gesetzen zu regeln und auch andern, nicht dichterisch Beanlagten durch das Medium der Logik einigermassen verständlich zu machen. Aber auch wenn wir alle Missverständnisse ausschliessen, bleibt die Sache immer noch sehr schwierig. Es mangelt zunächst gänzlich an brauchbaren Büchern, die dem Dichter einen vollkommenen Einblick in das verschaffen könnten, was ihm aus dem ungeheuren Bereiche der wissenschaftlichen Forschung über den Menschen zu wissen Noth thut. Die in ihren Resultaten so sehr werthvolle psychologische und physiologische Fachliteratur zeigt den Bestand des Materials nur in seiner äussersten Zersplitterung. Weit entfernt, die Arbeit des einsichtigen Dichters unter der Rubrik des psychologischen Experimentes entsprechend zu würdigen, zieht sich die Fachwissenschaft in den allermeisten Fällen vornehm zurück und überlässt die Verarbeitung ihres Materials für poetische Zwecke dem Philosophen, der unter zehn Fällen neunmal die Thatsachen unter dem Vorwande der Ordnung einfach fälscht. Statt der Wissenschaft Rechnung zu tragen, suchen schaffende Poesie wie Aesthetik dann ihre Prämissen durch Studium philosophischer Systeme zu gewinnen, und der Erfolg ist, dass wir unter dem Vorwande realistischer Annäherung an die Resultate der Forschung allenthalben einer Verherrlichung Hegel'scher Phrasen, Schopenhauer'scher Verbohrtheiten oder Hartmann'scher Willkür begegnen, die mit echter Wissensbasis wenig mehr zu schaffen haben, als die alten religiösen Ideen, so geistvoll sie auch im Einzelnen ersonnen sein mögen.
Eine Anzahl vorsichtiger Geister, besonders ausübender Poeten, verschmäht mit