Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах. Коллектив авторов

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über die Lippen kommt – zumal im Jahr der Erin-nerung an 1917 —, lässt er sich doch kaum aus philosophisch-ideengeschichtlichen Traditionen herleiten. Natürlich ist das Wort ‚revolutio‘ alt, doch trug es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ganz andere Bedeutungen. Karl Ernst Georges Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch kennt ‚revolutio‘ überhaupt nicht im Bereich des klassischen Latein. Eine Umwälzung im Staat wurde anders bezeichnet, etwa als ‚rerum publicarum conversio‘ oder als ‚Aufstand, Rebellion‘ mit dem Wort ‚seditio‘ [Georges 1910: 1962–63]. Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert existierte in der deutschen Sprache das Fremdwort ‚Revolution‘, das aber in unterschiedlichen Wissenschaften und Bereichen die Veränderung einer geometrischen Ordnung meinte. Truppenteile konnten eine ‚Revolution‘ vollziehen, Tanzformationen ebenso. Vor allem aber meinte ‚Revolution‘ die ‚Umdrehung‘, den ‚Umlauf‘ in der Astronomie, also die Bahn eines Himmelskörpers um ein Hauptgestirn. Theologisch meinten ‚revolvere‘ und ‚Revolution‘ das Wegrollen des Steins vom Grab Christi.

      Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts finden sich Begriffsverwendungen, die die englische und spanische Varietät von ‚Revolution‘ mit geschichtlichen Ereignissen in Verbindung bringen. Ein früher Beleg für ‚glorious revolution‘ stammt von 1696 [vgl. Beverley 1696]. Doch erhielt die englische Revolution von 1688 gerade deshalb das Epitheton ‚glorious‘, weil sie eben nicht ‚revolutionär‘ im heutigen Sinne, also nicht schlagartig, gewaltsam oder gar blutig verlief. Revolutionär wurde der Begriffsinhalt von ‚Revolution‘ erst am Ende des 18. Jahrhunderts im Kontext der Französischen Revolution und meinte nunmehr ‚gewaltsamer, totaler Umsturz‘, ‚Staatsumwälzung‘, ‚plötzlicher Bruch mit Tradition und Geschichte‘. Friedrich Schlegel gilt 1798 die Französische Revolution in den Athenaeums-Fragmenten als „Urbild der Revoluzionen“. Die moderne Wortbedeutung war im Deutschen von Anfang an häufig pejorativ besetzt und wurde von ‚Evolution‘ in positiver Bedeutung abgesetzt. Herder formulierte 1793 in den Briefen zur Beförderung der Humanität: „Mein Wahlspruch bleibt also fortgehende, natürliche, vernünftige Evolution der Dinge, keine Revolution.“ Ähnlich Immanuel Kant 1798 in Der Streit der Fakultäten: „daß der Staat sich von Zeit zu Zeit auch selbst refomiere und anstatt Revolution Evolution versuchend, zum besseren geständig fortschreite“.

      Mit dem Begriff ‚Revolution‘ im modernen Sinne verbindet sich also kein aus ideengeschichtlicher Tradition abgeleitetes Deutungskonzept. Der Begriff reagiert auf die aktuelle Zeitgeschichte, ist als solcher deskriptiv, nicht interpretierend, auch wenn sich unterschiedliche Wertungstendenzen damit verbinden können.

      Ganz anders nimmt sich die Begriffsgeschichte von ‚Evolution‘ aus [vgl. DFWB22004, V/350–357]. Der etymologische Kern, das lateinische ‚evolutio‘ von ‚evolvere‘, meint zunächst konkret das Auseinanderrollen einer Schriftrolle, übertragen dann das Ausrollen und allmähliche Entfalten, Entwickeln einer Sache, auch deren Erforschen. Zwar bezeichnete auch das deutsche Fremdwort im 17. und 18. Jahrhundert die Veränderung von Truppenteilen, doch blieb das ein Randaspekt der Begriffsgeschichte. Dominant wird vielmehr der Aspekt der natürlichen, präformierten Entwicklung in der langen Dauer: Biologisch geht es um die Entfaltung des im Samen oder Keim Angelegten in der voll entwikkelten Pflanze; medizinisch um die Entwicklung vom Embryo zum entwickelten Menschen. In diesem Sinne verbindet sich ‚Evolution‘ mit den Nebenbedeutungen des Organischen und Natürlichen. Goethes Begriffe der ‚Metamorphose‘ und der ‚Entelechie‘ stehen deutlich in dieser Begriffstradition.

      Unter dem Einfluss von Charles Darwins On the Origin of Species von 1859 tritt der Begriff aus der Sphäre der Individualgeschichte in die Menschheitsgeschichte über, aus der Ontogenese in die Phylogenese. ‚Evolution‘ meint hier die ‚stammesgeschichtliche Entwicklung der Lebewesen von niederen zu höheren Formen‘, mithin eine Entwicklung, der eine spezifische Logik zugrunde liegt, nämlich die des linearen Aufstiegs, des Fortschritts.

      Eine solche Entwicklungslogik hatte bereits die frühe Geschichtsphilosophie der Aufklärung der Entwicklung des Menschengeschlechts unterlegt, und zwar als Prinzip der Vervollkommnung, der Perfektibilität in teleologischer Auslegung. Dieser Hintergrund eröffnet die Möglichkeit der Übertragung von ‚Evolution‘ im vordarwinistischen und dann im darwinistischen Sinne auf die Bereiche von Kultur, Gesellschaft und Geschichte. Ein langsames, bruchloses und vor allem lange währendes Sich-Entfalten ließ sich schon im 18. und dann darwinistisch modifiziert seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ‚Evolution‘ beschreiben. Erst in dieser Sphäre und dieser Bedeutung tritt ‚Evolution‘ in Opposition zu ‚Revolution‘, wie wir bereits gesehen haben. Nach der Oktoberrevolution in Russland und der Novemberrevolution in Deutschland erklärte Gustav Stresemann 1919 in seiner Redensammlung Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles: „die entwicklung zum besseren [durfte] nur den weg der evolution, niemals den weg der revolution gehen“.

      In der Geschichte beider Begriffe fällt auf, dass ‚Revolution‘ wie ‚Evolution‘ ihre modernen Begriffsinhalte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erhalten, also in der Phase, die die Bielefelder Historikerschule um Reinhart Koselleck als die „Sattelzeit“ um 1800 beschrieben hat, in der vormoderne in moderne Gesellschaftsformen übergehen. Die Modernität beider Begriffe – und das ist entscheidend – stellt sich aber ganz unterschiedlich dar. ‚Revolution‘ ist insofern wahrhaft modern, als der Begriff eigentlich eine Leerstelle bezeichnet, die dort entsteht, wo alte metaphysisch-ontologische Deutungsschemata nicht mehr greifen. Das Erdbeben von Lissabon 1755 war noch metaphysisch-theologisch interpretierbar gewesen, ja das Ereignis befeuerte geradezu die philosophische Diskussion: Die Theodizee-Frage wurde neu diskutiert; Voltaire verspottete Leibniz und sein Theorem der „besten aller möglichen Welten“; Rousseau und Voltaire stritten über den Optimismus et cetera. Die Französische Revolution hingegen fand statt am Ende des Jahrhunderts der Aufklärung, das fortwährend Metaphysikkritik unter dem Label der Vorurteilskritik betrieben hatte. Die sich brachial in der Tagespolitik entladende Gewalt war 1789 weder in die theologische Providentia-Lehre, also in den weisen Plan Gottes, noch in ein geschichtsphilosophisches Fortschritts- oder Perfektibilitätsmodell zu integrieren. Im Gegenteil: Geschichtsphilosophie musste erst neu erfunden oder vom idealistischen Kopf auf die materialistischen Füße gestellt werden, um Revolutionen sinnstiftend in eine neue metaphysische Ersatzreligion integrieren zu können. Zusammenfassend: Im Umfeld von 1789 meinte ‚Revolution‘ das aus jeder Ordnung Herausfallende, sich jeder Sinnstiftung Entziehende – und war in diesem Sinne geradezu dekonstruktivistisch modern.

      ‚Evolution‘ hingegen gehört zu jenen in der Sattelzeit neu entstehenden Begriffen, die die Last der metaphysisch-ontologischen Tradition, die man eigentlich abwerfen wollte, in einem modernen Begriffsdesign fortschrieben. ‚Entwicklung‘ und ‚Entfaltung‘ sind ohne metaphysische Fundamentalannahmen gar nicht denkbar. Was sich entwickeln, entfalten soll, muss der Essenz nach bereits wesenhaft vorhanden sein, wie Sartre gesagt hätte. Das gilt für den Samen der Pflanze wie für die Individualität des Individuums. Der Keim trägt bereits das Programm, nur blendet die Moderne die alten Fragen aus, wer dieses Programm dort eingeschrieben hat und zu welchem Zweck, nach welchem Plan.

3. Geschichtsphilosophie

      Im Bereich der Geschichtsphilosophie lässt sich kurz zeigen, dass mit der Wahl zwischen den Prinzipien von ‚Revolution‘ und ‚Evolution‘ auch in der Moderne gänzlich unterschiedliche Weltzugänge oder Weltdeutungsmuster verbunden sind. Wir wenden uns zur Verdeutlichung Goethe zu:

      es liegt nun einmal in meiner Natur, ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen [Goethe 1987, I/33: 315].

      Zuletzt hat Gustav Seibt [2014] in seinem Buch Goethe in der Revolution alle historischen Bezüge entfaltet, die diesem berühmten Diktum aus Goethes Belagerung von Mainz eingeschrieben sind. Genau betrachtet, betrifft jedoch vor allem der erste Teil, das Begehen einer Ungerechtigkeit, die Sphäre des Geschichtlichen oder Politischen, die Goethe als nicht mehr steuerbaren Ausbruch von Partikularinteressen, als Wüten individueller Egoismen und demagogisch verführter Köpfe auffasste; dort konnte, ja musste „Ungerechtigkeit“

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