Ein Opfer der Mutterliebe. Hendrik Conscience

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Ein Opfer der Mutterliebe - Hendrik Conscience

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Erziehung ausreichend und früh zu vollenden, und so kehrte ich bereits mit 24 Jahren nach Hause zurück mit dem Diplom als Doktor der Rechte, nicht in der Absicht, mich praktisch der Rechtspflege zu widmen, denn ich hatte nicht nöthig, Geld zu verdienen, sondern nur um ein behagliches Leben durch geistige und wissenschaftliche Fortentwickelung zu verschönern und auszufüllen.

      Unserm Hause gegenüber wohnte ein Herr Steurs, ein wohlhabender Fabrikant von Broncewaaren, der seit langen Jahren der nächste Freund meines Vaters war. Er hatte eine einzige Tochter, etwas jünger als ich, deren Spiele ich in meiner Kinderzeit oftmals getheilt. Und später, als ich auf der Universität war, schwebte das Bild des lieblichen kleinen Mädchens in Stunden des Heimweh’s mir wie eine süße Erinnerung vor der Seele.

      Jetzt, nach Brüssel zurückgekehrt, hatte ich oftmals Gelegenheit, Maria zu sehn, ich war inzwischen ein ernster junger Mann, sie eine blühende Jungfrau geworden. Die ersten Blicke, die wir wechselten, waren für uns beide gewissermaßen die Verboten einer Zukunft voll Liebe und Glück, an dem Funken der Kinderfreundschaft entzündete sich in unseren Herzen ein heftiges und doch süßes Feuer.

      Dennoch vergingen Monate, ehe ich mit dem Bekenntniß meiner Liebe ihr zu nahen wagte; die Aufrichtigkeit und Reinheit meiner Zuneigung, und die große Verehrung, welche sie mir einflößte, machten mich schüchtern wie ein Kind.

      Unsere Eltern gewahrten bald, was in uns vorging, und da sie den richtigen Zeitpunkt gekommen glaubten, waren sie selbst es, die das Eis brachen; sie entlockten uns das erste Geständniß und legten eine lebhafte Freude über unsere Liebe zu einander an den Tag.

      Sie wollten gemeinschaftlich Alles besorgen und einrichten, was zu unserer Vereinigung nöthig und angenehm war, in wenig Monaten sollte die Hochzeit sein. Unser beider Glück war grenzenlos, wir hörten nicht auf, Gott für seine Gnade zu danken.

      Aber ach, eine schwere Wetterwolke zog sich zusammen an dem schönen, heitern Himmel unseres Glücks.

      Es war im Jahre 1830. Holland und Belgien waren noch vereinigt unter König Wilhelm I., doch traten immer mehr die Bestrebungen der Partei hervor, die mit großem Eifer die Trennung Belgiens von Holland forderte und betrieb. Im Volke nannte man die Anhänger der Einheit Orangisten, und die Gegner der Holländischen Herrschaft Patrioten.

      Mein Vater war immer ein feuriger Patriot gewesen; da aber sein Freund, Herr Steurs, ein eben so eifriger Orangist war, so entstanden alsbald zwischen ihnen die ersten Wortwechsel, dann bitt’re Vorwürfe und endlich ein unversöhnlicher Haß. Der blinde Parteigeist trieb sie so weit, daß sie unsere Verlobung auflös’ten; und beide schworen hoch und theuer, daß sie nimmer eine Verbindung mit der Familie des Todfeindes zugeben würden. Herr Steurs schien noch der Ergrimmteste von beiden zu sein.

      Maria und ich, die wir nicht begriffen, wie ein anderes Gefühl als das der Liebe das menschliche Herz erfüllen kann, suchten noch eine Zeitlang gegen unser Schicksal anzukämpfen, aber Alles blieb nutzlos. Unsere Eltern waren unerbittlich und so verstockt in ihrem politischen Haß, daß sie uns damals, wie ich glaube, ohne nachzugeben und vielleicht sogar ohne Mitleiden, vor Kummer hätten sterben sehen.

      Ach, das war ein schrecklicher Zeitraum, voll von Trauer und Verzweiflung für uns! Eingeschlossen in der Wohnung ihres Vaters wie eine Gefangene, beweinte die arme Maria in den bittersten Thränen unser verlorenes Glück. Was mich betrifft, ich kann nicht aussprechen, wie entsetzlich ich durch diesen Schlag getroffen war. Ich trauerte, magerte ab, in meinem Herzen erwuchs, zu meinem eigenen Schrecken, ein Gefühl des Hasses gegen die beiden unmenschlichen Väter, welche um ihrer Leidenschaft zu folgen, ihre Kinder auf dem Altar des Götzen Politik zum Opfer brachten. In meiner Verzweiflung faßte ich heimlich den Entschluß, meine Heimath und meinen Vater zu verlassen. Ich wollte nach Ost-Indien oder nach America gehn, und niemals in das Land zurückkehren, wo mir Alles feindlich und hassenswerth erschien.

      Glücklicher Weise entwickelten sich die Staatsereignisse mit großer Schnelligkeit, und zwangen mich, mein Vorhaben einstweilen hinauszuschieben.

      Der Ausstand von 1830 brach los, ganz Brüssel stand auf dem Kopf. Der König entsandte eiligst ein Heer, um den Aufruhr durch die Gewalt der Waffen zu dämpfen. Während drei Tagen donnerten die Kanonen und floß das Blut in der oberen Stadt.

      Am Abend des letzten dieser drei Tage saß ich einsam in meinem Zimmer, dessen Fenster auf den inneren Hofraum unserer Wohnung gingen, entfernt von der Straße. Ich horchte auf das dumpfe Getöse der Kanonen und den zischenden Laut des Pelotonfeuers. Jede neue Erschütterung machte mich zittern, es war mir als müßten die Kugeln und Granaten einen großen Grabhügel bilden, unter dem mein Lebensglück tiefer und tiefer eingescharrt würde.

      Mein Vater hatte inzwischen einige unserer Arbeiter bewaffnet, hatte selbst ein Gewehr ergriffen und war an ihrer Spitze in’s Feuer gegangen. War er ein Held, würde er sich unglücklich machen? Ach, diese Fragen beschäftigten mich nur wenig, ich konnte nur an meine arme Maria denken, die seit einigen Tagen krank darniederlag und vielleicht sterben sollte!

      Plötzlich hörte ich die Stimme eines unserer Diener hastig meinen Namen rufen, und noch ehe ich die Thür des Zimmers erreichte, um zu fragen, was es gebe, trat er schon herein und sagte in großer Aufregung:

      »Herr David, folgen Sie mir schnell! nehmen Sie Pistolen und Jagdmesser zu sich, Ihr Vater schickt mich, Sie zu holen!«

      Als ich noch zweiflend den Kopf schüttelte und nicht gleich einwilligte, theilte er mir mit, daß sich vor dem Hause unseres Nachbarn, des Herrn Steurs, ein großer Haufen halbtrunkener, wüthender Menschen zusammengerottet hatte. Einige waren selbst schon in das Haus eingedrungen. Sie riefen drohend, daß sie den schändlichen Orangisten an die nächste Laterne hängen und seine Wohnung anzünden wollten. Mein Vater, der hinzugeeilt war, um solche Gewaltthaten zu verhindern, ließ mich rufen.

      »Großer Gott, Maria!« rief ich aus, indem ich nach der Wand sprang, die Pistolen in meinen Gürtel steckte, und mein langes Jagdmesser zur Hand nahm.

      Ich folgte dem Bedienten, und drang durch die tobende Menge bis in das bedrohte Haus des Herrn Steurs vor.

      Eine Bunde rasender Kerle wollte ihm wirklich an’s Leben und stieß die schrecklichsten Verwünschungen gegen ihn aus; aber mein Vater mit einigen Leuten, die unter seinem Befehl standen, suchte ihn zu vertheidigen und die Tobenden zur Vernunft zu bringen. Ich hörte wie er ihnen zu wiederholten Malen sagte, daß es verständiger Menschen und wahrer Patrioten unwürdig sei, so die heilige Sache des Vaterlandes durch Gewaltthätigkeit zu entehren und mit dem Blute von Landeskindern zu besudeln.

      »Fort mit dem Orangisten! An die Laterne mit dem Verräther!« wurde ihm heulend geantwortet.

      Obschon von Natur nichts weniger als blutdürstig, empfand ich einen lebhaften Impuls, dem wüthendsten dieser Kerle durch den Kopf zu schießen, und ich legte schon die Hand an den Hahn meiner Pistole; doch mein Vater hielt mich zurück, und bedeutete mich, ruhig zu bleiben.

      Herr Steurs, dessen Leben in großer Gefahr schwebte, stand neben meinem Vater, bebend und bleich wie ein Leintuch; er sah mit Entsetzen dem Augenblick entgegen, wo man ihn ergreifen, nach außen schleppen und der Raserei der Menge preisgeben würde.

      Zum Glück flöß’ten mein Vater und seine Genossen durch ihre entschlossene Haltung Furcht und Achtung ein, sonst wäre es ohne Zweifel bald um das Leben des armen Fabrikanten geschehn gewesen.

      Herr Steurs bemerkte in diesem Augenblick, daß zwei oder drei seiner Feinde eine Seitenthür öffneten. Der unglückliche Vater warf einen flehenden Blick auf mich und seufzte kaum hörbar:

      »Himmel, meine Tochter! David, David, rette meine Tochter!«

      Ich verstand ihn und sprang den Leuten nach.

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