Gesammelte Werke. Robert Musil

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Gesammelte Werke - Robert Musil

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daß auch mit ihr jeder Mann zärtlich einzulenken versuchte, kaum er die ersten Worte hinter sich gebracht hatte. Wie sie nun ihren Begleiter ansah, gab ihr das mit einem Mal einen Stich; bis zu diesem Augenblick hatte sie noch nie gefühlt, mit einem Mann in seiner Gesellschaft zu sein, denn alles war anders. Er hatte sich breit auf beide Ellbogen zurückgelehnt, und der Kopf lag auf der Brust; fast ängstlich sah Tonka nach seinen Augen. Da aber stand ein eigentümliches Lächeln; er hatte das eine Auge geschlossen und zielte mit dem andern längs seines Körpers hinunter; es war sicher, daß er davon wußte, wie häßlich die Stellung seines Schuhes aussah, und vielleicht auch, wie wenig es war, mit Tonka an einem Waldrand zu liegen, aber er änderte nichts daran, jedes einzelne war häßlich, und alles zusammen was Glück. Tonka hatte sich leise aufgerichtet. Hinter ihrer Stirn war es plötzlich heiß geworden und ihr Herz klopfte. Sie verstand nicht, was er dachte, aber sie las alles zugleich in seinem Auge und ertappte sich mit einem Mal bei dem Wunsch, seinen Kopf in den Arm zu nehmen und seine Augen zuzudecken. Sie sagte: «Es ist schon Zeit, zu gehen, sonst wird es finster.»

      Als sie am Wege waren, sagte er: «Sie haben sich gewiß gelangweilt, aber Sie müssen sich an mich gewöhnen.» Er nahm ihren Arm, weil man schon schlecht zu sehen begann, und suchte sich für sein Schweigen und dann unwillkürlich weiter auch für seine Gedanken zu entschuldigen. Sie verstand nicht, wovon er sprach, aber sie erriet seine Worte, die so ernst durch den Nebel drangen, in ihrer Art. Und als er sich nun gar noch für den Ernst dieser Worte entschuldigte, wußte sie nicht aus noch ein und fand bei der Jungfrau Maria keine andere Antwort, als daß sie ihren Arm inniger in seinen schob, wenn sie sich auch furchtbar dafür schämte.

      Er streichelte ihre Hand. «Ich glaube, daß wir uns gut vertragen, Tonka, aber verstehen Sie mich denn?»

      Nach einer Weile antwortete Tonka: «Es macht nichts, ob ich weiß, was Sie meinen. Ich könnte ohnedies nicht antworten. Aber ich mag es, daß Sie so ernst sind.»

      Das waren gewiß lauter kleine Erlebnisse, aber das Merkwürdige ist: sie waren in Tonkas Leben zweimal da, ganz die gleichen. Sie waren eigentlich immer da. Und das Merkwürdige ist, sie bedeuteten später das Gegenteil von dem, was sie anfangs bedeuteten. So gleich blieb sich Tonka, so einfach und durchsichtig war sie, daß man meinen konnte, eine Halluzination zu haben und die unglaublichsten Dinge zu sehen.

III

      Dann kam ein Ereignis, seine Großmutter starb vor der Zeit; Ereignisse sind ja nichts anderes als Unzeiten und Unorte, man wird auf einen falschen Platz gelegt oder vergessen und ist so ohnmächtig wie ein Ding, das niemand aufhebt. Auch was sich viel später ereignete, geschieht tausendfach in der Welt, und bloß daß es mit Tonka geschah, konnte man nicht verstehen.

      Es erschien also der Arzt, die Leichengeschäftsleute kamen, der Totenschein wurde geschrieben und Großmama begraben – eins reihte sich in glatter Ordnung ans andere, wie es in einer guten Familie sein muß. Die Verlassenschaft wurde geregelt; man durfte froh sein, sich daran nicht beteiligen zu müssen; bloß ein einziger Punkt des Nachlasses erforderte Aufmerksamkeit, die Versorgung des Fräuleins Tonka mit dem traumhaften Nachnamen, der einer jener tschechischen Familiennamen war, die «Er sang» oder «Er kam über die Wiese» heißen. Es bestand ein Dienstvertrag. Das Fräulein sollte außer Lohn, der gering war, für jedes vollendete Dienstjahr mit einem bestimmten Betrag im Nachlaß bedacht werden, und da man auf ein längeres Leiden Großmamas gerechnet und, den erwarteten Unbilden der Pflege gemäß, den Betrag in langsam wachsenden Stufen festgesetzt hatte, kam es, daß er einem jungen Menschen empörend gering erscheinen mußte, der die aufgeopferten Monate von Tonkas Jugend nach Minuten wog. Er war zugegen, als Hyazinth mit ihr abrechnete. Er las scheinbar in einem Buch – es waren noch immer die Tagebuchfragmente von Novalis in Wirklichkeit aber folgte er mit Aufmerksamkeit dem Vorgang und schämte sich, als sein «Onkel» die Summe nannte. Sogar dieser schien etwas Ähnliches zu fühlen, denn er begann ausführlich die Bestimmungen des seinerzeit abgeschlossenen Vertrags dem Fräulein auseinanderzusetzen. Fräulein Tonka hörte mit festgeschlossenen Lippen aufmerksam zu; der Ernst, mit dem sie der Rechnung folgte, gab ihrem jugendlichen Gesicht etwas sehr Rührendes.

      «Also stimmt es?» sagte der Onkel und legte das Geld auf den Tisch.

      Sie schien wohl überhaupt keine Ahnung zu haben, zog ihr kleines Täschchen aus dem Kleide, faltete das Papiergeld zusammen und schob es hinein; aber da sie die Noten vielmals biegen mußte, machten sie, so wenig ihrer waren, ein dicken Pack und waren nicht unterzubringen; wie eine Geschwulst saß die entstellte Börse unter dem Rock am Bein.

      Jetzt hatte das Fräulein noch eine Frage: «Wann muß ich gehen?»

      «Ja,» meinte der Onkel, «es wird wohl noch ein paar Tage dauern, bis der Haushalt aufgelöst ist; so lange können Sie gewiß bleiben. Aber Sie können auch früher gehen, wenn Sie wollen, wir brauchen Sie ja nicht mehr.»

      «Danke,» sagte das Fräulein und ging auf sein Zimmerchen.

      Die andern waren inzwischen mit der Verteilung schon beim täglichen Gebrauch angelangt. Sie waren wie Wölfe, die einen gefallenen Kameraden auffraßen, und hatten sich schon gegenseitig gereizt, als er fragte, ob man nicht dem Fräulein, das so wenig Geld bekommen habe, wenigstens ein wertvolles Andenken geben solle.

      «Wir haben Großmamas großes Gebetbuch dafür bestimmt.»

      «Nun ja, aber etwas Praktisches würde ihr gewiß mehr Freude machen; was ist denn zum Beispiel mit dem da?» Auf dem Tisch lag ein brauner Pelzkragen, den er hochhob.

      «Der ist für Emmi», – Emmi war seine Kusine – «wo denkst du überhaupt hinaus, das ist doch Nerz!»

      Er lachte. «Wer sagt, daß man bei armen Mädchen nur der Seele etwas schenken darf? Wollt ihr für knauserig erscheinen?»

      «Das laß nur uns über,» meinte jetzt seine Mutter, und weil sie ihm nicht ganz unrecht gab, fuhr sie fort: «Du verstehst es doch nicht; sie wird nicht zu kurz kommen!» Und sie nahm generös und ärgerlich einige Taschentücher, Hemden und Beinkleider der alten Frau für das Fräulein auf die Seite, dazu ein schwarzes Kleid, dessen Tuch noch neu war. «So, das ist jetzt wohl genug. Gar so verdient hat sich das Fräulein ja nicht gemacht, und sentimental ist sie auch nicht: Weder als Großmama starb, noch beim Begräbnis hat sie auch nur eine Träne im Auge gehabt! Also gib, bitte, Frieden.»

      «Es gibt Menschen, die schwer weinen; das ist doch kein Beweis» – antwortete der Sohn, nicht weil es ihn wichtig zu sagen dünkte, sondern weil ihn seine Redegeschicklichkeit reizte.

      «Bitte …!?» sagte die Mutter. «Fühlst du nicht, daß deine Bemerkungen jetzt nicht am Ort sind?»

      Er schwieg auf diese Zurechtweisung nicht aus Scheu, sondern weil es ihn plötzlich unbändig freute, daß Tonka nicht geweint hatte. Seine Verwandten sprachen lebhaft durcheinander und er bemerkte, wie gut sie damit ihren Nutzen wahrten. Sie sprachen nicht schön, aber flink, hatten Mut zu ihrem Schwall, und es bekam schließlich jeder, was er wollte. Redenkönnen war nicht ein Mittel der Gedanken, sondern ein Kapital, ein imponierender Schmuck; während er vor dem Tisch mit Gaben stand, fiel ihm der Vers ein: «Ihm schenkte des Gesanges Gabe, der Lieder süßen Mund Apoll», und er bemerkte zum ersten Mal, daß dies wirklich ein Geschenk sei. Wie stumm war Tonka! Sie konnte weder sprechen noch weinen. Ist aber etwas, das weder sprechen kann, noch ausgesprochen wird, das in der Menschheit stumm verschwindet, ein kleiner, eingekratzter Strich in den Tafeln ihrer Geschichte, ist solche Tat, solcher Mensch, solche mitten in einem Sommertag ganz allein niederfallende Schneeflocke Wirklichkeit oder Einbildung, gut, wertlos oder bös? Man fühlt, daß da die Begriffe an eine Grenze kommen, wo sie keinen Halt mehr finden. Und er ging wortlos hinaus, um Tonka zu sagen, daß er für sie sorgen wolle.

      Er traf Fräulein Tonka beim Einpacken ihrer Habe. Auf einem Sessel lag eine große Pappschachtel und am Fußboden standen zwei; eine davon war schon mit Bindfaden verschnürt, aber

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