Melusine. Jakob Wassermann
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Auf der ersten Seite dieses Tagebuchs befanden sich in lapidaren Lettern die prunkvollen Worte: Die reine Wahrheit.
II.
Fräulein Emilie von Erdmann erwachte seufzend aus dem Morgenschlummer. Das Auf- und Zuklappen der Thüren hatte ihren Schlaf verscheucht. Die dicke, ältliche Dame stöhnte sehr laut und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Als der Lärm kein Ende nahm, murmelte sie Flüche und Schimpfworte, ballte beide Fäuste gegen die unsichtbaren Feinde draußen und rief endlich verzweifelt aus: „Mein Leben ist verpfuscht!“ Dann sank sie theatralisch in die Kissen zurück und holte ein Brustbonbon aus dem Schubfach eines kleinen Tisches neben dem Bett.
Sie empfand jenes heftige Unbehagen, das Jeden heimsucht, der aus dem Schlaf zu den Sorgen des Lebens zurückkehrt. Auch die Überlegung, wieder um einen Tag älter geworden zu sein, verstimmte sie. Der Verfall ihres Körpers war das Schauspiel, worüber sie täglich von neuem grollen mußte. Und sie wollte noch jung sein und zur Jugend gezählt werden. Aber mit fünfzig Jahren ist man alt, der kunstreichsten Modistin zum Trotz.
Das Dienstmädchen brachte den Morgenkaffee und Fräulein von Erdmann beschwerte sich lebhaft über die Unruhe. „Liebste Anna,“ sagte sie mit vibrirender Stimme, „ich bin so elend, so krank. Sehen Sie her“ (sie streckte ihre Gichtfinger aus den Kissen) „wissen Sie was das ist? Das ist der Hohn des Lebens! Geben Sie mir die Hand, Anna! Ich weiß, daß Sie es gut mit mir meinen. Ich war nicht immer so. Ich habe Tage des Glanzes gesehn.“
Das Mädchen lächelte kalt. Mit kecker Vertraulichkeit betrachtete es nach Dienstbotenart die gelbe, schwammige Hand. Wieder allein, nahm die Kranke eilig den kleinen Spiegel von der Wand und blickte starr hinein. Sie zuckte mit keiner Wimper, ihr Gesicht nahm einen königlich strengen und dann einen finstern, zürnenden Ausdruck an, und ihre abnorm langen, fleischigen Ohrlappen röteten sich.
Von neuem wurden draußen die Thüren zugeschlagen, polternde Schritte ertönten auf dem Korridor, und der neue Herr rief nach Wasser. Mit einem Wutschrei sprang das Fräulein aus dem Bette. Sie suchte nach ihren Strümpfen, und kramte zu diesem Zweck unter den am Boden liegenden Wäschestücken, Zigarrenschachteln, Büchern, Zeitungen, Briefen und Unterröcken; sogar auf dem Tisch suchte sie zwischen den Kaffeetassen, Flaschen und Speiseresten. Aber das Erfolglose ihrer Bemühungen erkennend, begnügte sie sich damit, einen langen, faltenlosen Mantel um die Schultern zu hängen, der das schmutzige Nachthemd nur schlecht verhüllte, und barfuß in ein paar zerrissene Pantoffeln von ehrwürdigem Alter zu schlüpfen. Sie wollte schon hinausgehen, aber zwei Gründe hielten sie von ihrem Beschwerdegang ab. Erstens, dachte sie, wird mein Kaffee kalt und zweitens wäre diese kleine Frau Bender fähig, mich wegen der lumpigen paar hundert Mark, die ich schuldig bin, zu enuyiren. Dies „enuyiren“ gefiel ihr; es verhüllte das am Besten, was zu denken sie sich schämte.
Nach dem reichlichen Frühstück hatte sie ihre Morgenzigarre angezündet und sich in schöner Pose auf die Ottomane gelegt. Da knarrte die Thür in den Angeln und unwillig wandte die Liegende das Haupt. Sie sah Fräulein Mirbeth im Zimmer stehen, dicht neben der Thür, die das junge Mädchen langsam geschlossen hatte. Emilie von Erdmann sprang auf, „Was – Sie, Fräulein!“ rief sie erstaunt.
Fräulein Mirbeth antwortete nicht. Sie schaute gerade vor sich hin, aber nicht auf einen bestimmten Punkt, sondern sie blickte weit in die Ferne und sie schien etwas wahrzunehmen, das mehr und mehr ihre Angst erregte. Ihre Arme hingen schlaff an dem grauen, wollenen, schwarzgemusterten Morgenrock herab und ihre kleinen, feinen, schmalen und mageren Hände leuchteten förmlich durch das Zimmer.
„Aber liebes Kind, was haben Sie denn?“ rief Fräulein von Erdmann erschrocken und haschte zärtlich nach der Hand dieses „Kindes,“ das einen Kopf größer war als sie.
Das junge Mädchen machte noch immer keine Bewegung. Wohl aber begannen die Nasenflügel zu beben und die schwarzen Augen, die aus dem blassen Gesicht hervorleuchteten wie zwei überaus glänzende Perlen, füllten sich mit Thränen. Beständig, ohne aufzuhören, nagte sie an der Unterlippe und dann ging ein Zucken durch ihren Körper. Sie zitterte. Plötzlich machte sie zwei oder drei Schritte vorwärts, – schnell als fürchte sie zu fallen, warf sich auf die Ottomane, legte den Kopf auf die verschränkten Arme und begann zu weinen, – leise und unaufhaltsam.
Fräulein von Erdmann war ratlos. Mechanisch strich sie über das wirre, dunkle, glanzlose Haar der Weinenden, das bei jeder Berührung knisterte wie Seide.
Die dicke Dame suchte zu trösten. „Wer hat Ihnen denn ein Leids gethan, Sie Arme? Ist es Ihr, – Ihr Vormund, ist es dieser schreckliche Oberst? Sagen Sie mir alles. Unbesorgt dürfen Sie sich mir anvertrauen. Ich bin verschwiegen wie das Grab. Vertrauen Sie mir, liebes Kind. Ist er denn in Sie verliebt, dieser Oberst? Und hat er Sie beleidigt? Vertrauen Sie mir!“
Und sie drängte in das junge Mädchen mit dem ganzen Ungestüm einer Frau, die um jeden Preis ein Geheimnis zu erpressen sucht.
Fräulein Mirbeth richtete sich auf. Sie drückte einen Augenblick die Lider zu, wie um dadurch widerwärtige Bilder hinwegzuscheuchen und sagte schroff. „Lassen Sie mich!“ Ihr Gesicht war voll Scham, und sie wußte nicht, wohin sie den Blick wenden sollte. Mit aufgehobenen Händen stand Fräulein von Erdmann vor ihr und sagte mehr als zehnmal: „Vertrauen Sie mir!“
Das junge Mädchen schüttelte den Kopf und entgegnete langsam: „Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein. Ich war wohl recht dumm. Aber ich kann jetzt nicht reden. Verzeihen Sie mir.“ Sie nickte zerstreut und ging hastig hinaus.
Wütend, mit verächtlich zusammengepreßten Lippen sah ihr die dicke Gnädige nach.
III.
Fräulein Mirbeth kehrte in ihr Zimmer zurück. Lange Zeit ging sie auf und nieder, mit großen Schritten und scheinbar völlig losgelöst von allem, was sie umgab. Sie war phlegmatisch in ihren Bewegungen und ihr Gesicht verriet keine innere Regung mehr. Aber etwas Freudloses und Hoffnungsloses lag auf ihr wie Novemberreif. Beim ersten Anblick erschien sie schlaff, müde und gleichgültig.
Sie setzte sich an den Schreibtisch, nahm Feder und Papier zur Hand und schickte sich an, zu schreiben. Doch blieb es nur beim Ansetzen der Feder, deren Spitze sie stets ängstlich betrachtete. Offenbar wußte sie genau, was sie schreiben wollte: Satz für Satz; aber diese Sätze aufs Papier zu bringen, war ihr unmöglich. Unmutig warf sie die Feder fort und stützte den Kopf in die Hand. Jetzt mußte sie aufquellende Thränen verschlucken und plötzlich errötete sie vor Scham oder vor Haß. Sie zog ein kleines, mit flotter Hand beschriebenes Stück Papier aus der Tasche, entknitterte es und sah länger als eine Viertelstunde darauf nieder.
Da klopfte es und das kleine Fräulein Bender trat herein. Mit ihren schwebenden, etwas gesucht graziösen Schritten ging sie auf die regungslos Dasitzende zu, faßte sie bei der Hand und sagte: „Was ist Ihnen denn, Mely? Sie sind so verstört, schon seit gestern. Sogar Mama hat es bemerkt und hat gesagt, ich möchte doch mal herein.“
Mely Mirbeth schüttelte langsam den Kopf,