Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

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Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann

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voller Vorstellungen und Vorwürfe; Religion bildete die Quelle der Beredsamkeit, so daß bisweilen der Ton etwas Prophetisches und Salbungsvolles hatte. Zum Schluß wurde der verderbte Greis flehentlich gebeten, in den Schoß der Kirche zurückzukehren.

      Ich hatte von der geschiedenen Ehe meines Vaters munkeln hören. Dieser Brief war von seiner Frau. Sie verdummt in den Händen der Pfaffen, sagte der Alte bitterböse zu mir; aber zugleich nahm ich einen traurigen Ausdruck in seinem Gesicht wahr, der mir naheging. Er schickte mich an diesem Tag fort. Als ich am folgenden Tag wiederkam, schenkte er mir eine wunderschöne, goldene Uhr – für meine Dienste, wie er sich ausdrückte, hieß mich jedoch abermals gehen. Als ich durch den Korridor schritt, sah ich ein Mädchen von nicht mehr als fünfzehn Jahren, die voll Unbefangenheit in Blick und Miene an mir vorüberging, in die Wohnung meines Vaters. Sie war sehr elegant gekleidet, doch hatte man gleich den Eindruck, daß dies etwas Selbstverständliches an ihr war. Ich schaute ihr neugierig, fast freudig nach, und die Freude an meinem Geschenk ließ mich ihre flüchtige Erscheinung doch nicht vergessen. Als ich nach Hause kam, traf ich zu meinem Erstaunen Bianca Spinola bei uns. Sie war auf Geheiß meines Vaters gekommen, wie ich hörte; sie solle nur mit uns Umgang suchen, hatte er gesagt. Ich lachte und erwiderte, daß es wie in einer türkischen Familie sei, aber im Grunde fand ich etwas Wohliges und Geheimnisvolles in der neuen Verwandtschaft von fernher. Bianca Spinola sprach schon viel besser deutsch; ihr Radebrechen entzückte meine Mutter. Ich selbst fühlte mich gehobener durch ihre Gegenwart, doch ohne die frühere Bewegtheit; auch war mein Kopf voll von Gedanken. Ich zeigte meine prächtige Uhr, die eitel Bewunderung weckte, und wir waren herzhaft vergnügt den ganzen Abend über.

      Ich weiß nicht mehr recht, ob es der darauffolgende Tag war, an dem ich von Mittag bis zum Abend bei meinem Vater Briefe schrieb. Ich erinnere mich nur, daß es draußen stürmte und regnete und gewitterte. Mein Vater saß an der Seite des Tisches und diktierte. Er schien eine große Vermögensordnung im Sinn zu haben, denn in allen Briefen war davon die Rede; auch zeigte die ganze Art meines Vaters wohlerwogene Entschlüsse. Meines Vaters … An diesem Tag wurde mein Gehirn aufgeweckt, und ich sah mich nur als ein Körnchen unter vielen. Ich sah einen wahren Stammvater vor mir, dessen langes Leben, ein Leben, welches er noch nicht fühlte, in der Erzeugung von Kindern verflossen war. Freilich damals war es mir nur wie ein Schauer; heute verstehe ich. Jeder Brief war entweder an einen Sohn oder an eine Tochter oder an eine frühere Geliebte gerichtet, die jetzt alterte und arm war, und der er ein Scherflein zukommen ließ. Hier gab er Ratschläge und ermunterte, dort setzte es eine Strafpredigt; im Norden und im Süden, so schien es, hatte seine Jugend die gleichen Erfolge aufzuweisen gehabt, und in der Heimat selbst erblühte kräftig der junge Nachwuchs aus seinem Blut. Manchmal hatten mir Leute gesagt, daß Fürstinnen und Prinzessinnen von Liebe zu ihm geplagt worden seien, ja, daß eine gewisse Herzogin, nun schon bei hohen Jahren, oftmals ein Plauderstündchen beim alten Hilperich einhole. Das hatte man mir erzählt, und ich leugne nicht, daß ich dazu ein ungläubiges Gesicht aufgesetzt hatte. Jetzt wurde mir die Zeit zur Lehrerin, und ich verlachte meine eigene Zweifelsucht. Ich erfuhr freilich im Lauf der Zeit, daß mein Vater einst eine große Rolle gespielt habe. Der Hof und das Volk hätten gleichermaßen Vertrauen in ihn gesetzt; jener hätte seinen Kopf, dieses sein Herz zu würdigen gewußt, und beide seien auf ihre Rechnung gekommen. Im Revolutionsjahr soll er der Regierung wichtige Dienste geleistet haben, und man sagte, daß er auf die Neugestaltung unseres Strafgesetzes den größten Einfluß ausgeübt hätte. Ich erwähne alles dies mit Ängstlichkeit, denn ich kann nicht dafür bürgen. Aber zwei Umstände will ich noch anmerken, die für meine Augen ein Licht über meines Vaters Leben verbreiteten. Einmal zeigte er mir ein Ölgemälde, das ihn selbst in seinen jungen Jahren darstellte. Man konnte nichts Liebenswürdigeres sehen! Um die Stirne glitten braune Locken, die Augen blickten freundlich träumend, und das griechisch runde Kinn war fest wie ein junger Apfel. Der Maler mochte phantasiert haben, aber sicherlich hatte ihm das Entzücken über das lebendige Antlitz die Arbeit verschönt. Ich dachte mir damals, so muß man aussehen, um der Welt mehr zu sein, als sie uns ist. Oder vielleicht denk ich dies heute, denn damals war ich jung.

      Das zweite ist dies. Vor etwa zehn Jahren lernte ich einen alten Mann kennen, der mir von meinem Vater erzählte, und zwar in einem Ton wie von eigenen Heldentaten. Dieser Mann hatte meinen Vater als Fünfzigjährigen noch gekannt und behauptete, daß seine Anmut, sein weltmännisches Betragen, sein Witz und seine Güte einen eigenen Ruhm genossen hätten. Mein Erzähler berichtete tausend Einzelheiten mit einfältigem, aber rührendem Eifer. Nicht das jüngste Fräulein habe ihm zu widerstehen vermocht, dem Graubart, sagte der Schelm und lachte wie ein gackerndes Hühnchen. Schon damals sei die Zahl seiner Kinder zum Gegenstand vieler Witze geworden, und als er sich um diese Zeit verheiratete, hatte man in der Stadt gesagt, nun sei der Sultan zur Galeere verurteilt. Aber Hilperich war weiterhin auch Sultan geblieben, so meinte mein humoristischer Mann und fügte hinzu: wer ihn kannte, vermochte durchaus nicht an seinen Tod zu glauben. Etwas Starkes, Über den Tod-Starkes sei in ihm gewesen.

      Die Briefe, die mir mein Vater diktierte, mochten für einen Unvertrauten etwas Geheimnisvolles, sogar Wahnsinniges haben. Denn wer sollte denken, daß ein und derselbe Mann Söhne, Töchter, Frauen in allen Richtungen der Windrose besitze? Mich selbst zwang damals etwas Seltsames zu ungeprüfter Hinnahme. Ihr müßtet gesehen haben, wie mein Vater jedem einzelnen Brief gegenüber ein besonderer Mann wurde! Bei dem einen wurde sein Gesicht hämisch und verdrossen; bei dem andern leuchtete es erinnerungsvoll; jetzt war er karg und spröde, später von zärtlicher Geschwätzigkeit; hier verurteilte ihn ein kluger Ratschlag zu langem Nachdenken, dort war er zornig wie eine alte Katze, schlug vor Zorn auf den Tisch, fletschte die Zähne, und ich, ich wußte keinen Grund, sah ein Stück Vergangenheit wie in den Scheiben eines Spiegels. Aber zugleich muteten mich all die Gesichter vertraut an, denen ich mich schreiberhaft zugewandt hatte. Ich trug etwas nach Hause, was ich vordem nicht besessen hatte; wer kann dafür Worte finden? Kummer und Freude sah ich fließen in der weiten Gasse der Zeit. Mein Vater, ein fleißiger Angler, angelte sein Teil heraus. Was er nach Haus trug, war sein, wie meins, was ich.

      Jetzt muß ich aber etwas Neues erzählen, denn viel Verwirrendes drängt sich vor mir. Damit ich jedoch nicht vergesse, will ich erwähnen, daß ich an jenem Abend vor meines Vaters Haus den Mittelmann traf (den dünnen Mann mit der roten Krawatte) der mir eine Viertelstunde lang Unsinn vorschwatzte. Er tat so, als sei er wohl Hilperichs Kind, doch enthalte man ihm dies Recht vor. Darüber schwatzte der Arme wie ein Besessener; später erzählte mir mein Vater, daß dies Mittelmanns fixe Idee sei, mit der er seit Jahren durch alle Kneipen hausieren gehe. Oder glaubst du, daß einer, den ich gemacht, so aussieht? fuhr mich mein Vater grob an, stieß mich mit dem Zeigefinger vor die Stirn, lachte aber sogleich in seiner keuchenden Weise.

      Es war an einem Oktoberabend, kaum eine Woche nach jenem Brieftag, und ich hatte meine Arbeit eben beendigt, da kam jenes junge Mädchen zur Tür herein, welches mir damals an der Treppe begegnet war. Mit allen Zeichen der Bestürzung und Eile ging sie auf meinen Vater zu und flüsterte etwas. Der alte Mann warf den Kopf zurück und blickte mit einem drohenden Ausdruck ins Leere. Darauf schielte er mich boshaft und finster von der Seite an und befahl mir durch eine Gebärde, zu gehen. Bevor ich aber noch meinen Hut ergriffen, hatte mein Vater eine der Türen geöffnet, die aus seinem verwahrlosten Schlafgemach in ein mir bisher unbekanntes Zimmer führte. Dorthin sah ich nun die beiden gehen, und mein Blick erhaschte zugleich gierig den fremden Raum, den mein Vater nie betreten hatte, während ich zugegen war. Ich gewahrte nun ein kleines Boudoir, das meinen unverwöhnten Augen einen fürstlichen Prunk zeigte. Aber es schien mir zugleich wohnlich und warm drinnen, und als ich auf der Straße war, empfand ich eine Begierde nach diesem Gemach wie nach einem verbotenen, verzauberten Garten.

      Die kurze Szene, kaum der Rede wert für einen Unbeteiligten, hatte trotzdem tiefen Eindruck auf mich gemacht. Zu Hause fand ich Bianca Spinola, welche zum Essen blieb und den ganzen Abend bei uns verbrachte; meine Mutter war bei trefflicher Laune; ich blieb schweigsam und nachdenklich. Ich mußte fortwährend an das junge Fräulein denken, und das nicht vielleicht mit den Gedanken von Mann zu Weib. Es war so, daß sie vor meinem inneren Auge nicht entwich und ich mich quälte, zu ergründen, was mir an ihr, seltsam genug, ein für alle mal unergründlich schien. Noch jetzt, wenn

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