Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
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Sie hatte schon Abschied genommen, flüchtiger als die Gelegenheit zu fordern schien, da kehrte sie noch einmal zurück und sagte: »Wollt ihr heute übers Jahr wieder hier versammelt sein? Wollt ihr das? Dann verspreche ich euch, zu kommen.« Die Freunde sahen einander verwundert an, doch Franziska fuhr fort: »Heut ist der erste September, – also übers Jahr am gleichen Tage bin ich wieder hier, und vorher werdet ihr mich wohl kaum sehen. Halten wir die Verabredung, machen wir’s wie die Brüder im Märchen, sagt ja und ich gehe froher von euch weg.«
»Muß es denn am selben Tag sein?« fragte Cajetan.
»Gewiß, nur dann ist es bindend,« versetzte sie.
Das Versprechen ward von jedem in ihre Hand geleistet und sie ging. Alle schauten ihr betroffen und teilnahmsvoll nach, wie sie fast fliegend rasch den umgrünten Pfad hinuntereilte. Sie fuhr am nächsten Tag in die Stadt zurück, und kaum eine Woche war vergangen, so brachten alle Zeitungen die Neuigkeit, daß Franziska, die schöne Schauspielerin, mit Riccardo Troyer verschwunden sei. Die Nachricht verursachte schon deshalb Bestürzung, weil man die Heirat Franziskas mit dem Fürsten Armansperg als nahe bevorstehend betrachtet und das Gewagte einer solchen Verbindung hatte vergessen wollen. Man wußte zu sagen, daß der Fürst außer sich und nur mit Mühe verhindert worden sei, den Abenteurer polizeilich verfolgen zu lassen. Er war auf das Ereignis nicht im mindesten gefaßt gewesen, einzelne Warnungen hatte er verächtlich aufgenommen, doch von der Stunde ab zog er sich von der Welt zurück und lebte einsam.
Während alles dies sich abspielte, erhielt Lamberg ein Paket und einen Brief Franziskas. Der Brief berührte die eingetretene Schicksalswendung mit keiner Silbe und war so kurz wie er überhaupt nur sein konnte. »Ich gebe euch, Georg Vinzenz, Heinrich, Rudolf und Cajetan zum Abschied und zur Erinnerung den goldnen Spiegel der Aphrodite, den mir ein teurer und nun verstorbener Freund geschenkt hat. Ich hab euch einmal davon erzählt, schlecht wie mir scheint, sonst wäret ihr gekommen, um das wunderbare Ding anzuschauen. Der Spiegel soll keinem gehören und jedem, keiner soll ein Vorrecht darauf haben, weil ihr mir alle gleich wert seid und es eine frohe Empfindung für mich ist, ihn als ein Sinnbild meiner Liebe und Dankbarkeit in eurem Besitz zu wissen. Lebt wohl, vergeßt euer Versprechen nicht und denkt zuweilen an euer Geschöpf, eure Schwester, eure ewig getreue Franziska.«
Der Spiegel war in der Tat ein ausgezeichnet schönes Stück. Er war um das Jahr 1820 in den Ruinen eines kretischen Palastes aufgefunden worden, kam in die berühmte Sammlung Diatopulos und gelangte fünfzig Jahre später in die Hände des Herzogs von Casale. Im Jahre 1905, nach dem Tod des Herzogs, wurde, um dessen Schuldenlast zu tilgen, der Spiegel nebst vielen andern Kunstobjekten zu Paris versteigert, und dort hatte ihn der unbekannte Verehrer Franziskas erworben.
Die Freunde einigten sich dahin, daß jeder von ihnen den Spiegel für die Dauer von drei Monaten unter seinem Dach beherbergen sollte. Wären sie nicht Männer von Geschmack und Geist gewesen, so hätte Franziskas Gabe leicht Ärgernis stiften können. Keiner hatte Sicherheit; an wen die Reihe kam, der war zum voraus verstimmt über die Scheinhaftigkeit seines Rechts. Gemeinhin macht der Besitz die Dinge fremder; hier, wo der Gewinn schon den Verlust bedingte, hielt Ungewißheit das stets wieder entgleitende Gut doppelt lebendig. Hätte Franziska das Geschenk einem unter ihnen zugesprochen, so wäre für die andern keine Beunruhigung erwachsen, und der Erwählte hätte den Frieden der Gleichgiltigkeit nicht lange entbehrt. So wurde das Beschenkt- und Beraubtwerden zur gleichviel bedeutenden Pein.
Franziska blieb wie verschollen. Unter ihren zahlreichen Bekannten hatte niemand von ihr gehört, und der Urlaub, den sie vom Theater genommen, war längst überschritten. Es hieß, der Fürst Armansperg habe über Riccardo Troyer weitläufige Nachforschungen anstellen lassen, die zu einem bedenklichen Ergebnis geführt hätten. Auch davon wurde es allgemach still. Im Juli hielt sich Hadwiger einige Zeit in Paris auf und hörte, daß Troyer während des spanisch-marokkanischen Kriegs als Agent einer englischen Gewehrfabrik in Madrid tätig gewesen, daß er Betrügereien verübt und aus dem Land gejagt worden sei. Hadwiger konnte nicht vergessen; er war nicht fähig, sich ins Unwiderrufliche zu finden. Er grollte der Fügung, sein Gemüt war verdunkelt, und um der Gedankenspiele enthoben zu sein, arbeitete er Tag und Nacht.
So ging das kleine und das große Leben weiter. Im Juli bezog Lamberg seine Villa im Gebirg. Mit einer Köchin, dem Diener Emil und einem Affen verließ er die Stadt. Den Affen hatte er vor kurzem von einem holländischen Kaufmann erhalten und war förmlich verliebt in ihn. Es war ein junger Baam oder Schimpanse, der die Größe eines achtjährigen Knaben hatte. Durch die Unterhaltungen mit dem sich selbst ernst nehmenden Tier erlangte er Einblick in die Fülle schönen Humors, von welcher der sich selbst ernst nehmende Mensch umgeben ist.
In der letzten Woche des August trafen Hadwiger, Borsati und Cajetan ein. Sie wohnten diesmal alle drei in dem Gasthaus am See, da Cajetan nicht begünstigt zu sein wünschte und das lieblich barocke Hotelchen ebensoviele Bequemlichkeiten bot wie Lambergs Junggesellenheim.
Was über den Spiegel beschlossen wurde
Sieben Seen, zwischen Felsen und Wälder düster gebettet die einen, im Schutz freundlicher Hänge leuchtend die andern, konnte das Auge des Betrachters von jedem beherrschenden Gipfel aus erblicken. Wege zogen hügelauf- und abwärts; feste weiße Wege; durchschnitten und umgürteten die langgestreckten Dörfer, begleiteten lärmende Bäche, verloren sich in Wiesen, schlüpften über Brücken und Stege und klommen windungsreich an den kraftvoll gestalteten Bergen empor. Hier ein Garten, daneben eine Wildnis, da eine Ruine, drüben eine gewaltige Wand, im Norden kahle Steinriesen, im Süden ein erhabenes Gletscherhaupt; so wurde das Bild geschlossen, das harmonisch im einzelnen wie groß im ganzen war.
Dem Gletscher fern gegenüber, um die ganze Weite eines Tals, eines ausgedehnten Plateaus und einer tiefen Senkung hinter dem Plateau von ihm entfernt, lag die Villa Lambergs. Der Mond stand am Himmel, und durch die offenen Fenster drangen die eifrig sprechenden Stimmen in die Stille der Landschaft, die durch die vereinfachenden Linien der Nacht geisterhaft entrückt schien. Das Abendessen war vorüber, Borsati, Cajetan und Lamberg saßen noch am Tisch, Hadwiger ging in sichtlicher Aufregung hin und her. Er nahm es den Freunden übel, daß sie so gleichmütig waren, – denn heute war der Tag, für den Franziska sie alle zum Stelldichein gebeten hatte. Sie war nicht gekommen, und es bestand wenig Grund zu der Hoffnung, daß sie noch kommen würde, jetzt, in den Stunden der Nacht. Wer weiß, wo sie ist; wer weiß, ob sie lebt, dachte er bekümmert. Dann grübelte er darüber nach, wie er es anfangen könnte, um das Gespräch auf die Erwägungen zu lenken, die ihn so schmerzhaft beschäftigten. Hatte er doch während der Dauer eines Jahres diesem Tag entgegengelebt, nichts weiter, und das Wort Franziskas war ihm für beide Teile als so unwiderruflich erschienen, daß kein Zweifel sich in sein Zutrauen mischte. Nun war es Abend, und es war ein Tag vergangen wie viele andere Tage vor ihm. Warum sprechen sie nicht von ihr? dachte er; ist es Verstellung oder Kälte? Das, was sie Haltung nennen oder jene Herzensglätte, die sie mir oft so fremd macht?