Phantasien (Deutsche Ausgabe). Lafcadio Hearn
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Lafcadio Hearn
Phantasien (Deutsche Ausgabe)
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2017 OK Publishing
ISBN 978-80-7583-483-6
Inhaltsverzeichnis
Die Erscheinung der toten Kreolin
Aphrodite und der Gefangene des Königs
Die französische Schnupftabaksdose
Tropische Lilien gibt es, die giftig sind,
doch sie sind auch viel schöner als die
vergänglichen, eisig-weißen Lilien des
Nordens
Der Geisterkuß
Das Theater war voll. Ich kann mich nicht erinnern, was gespielt wurde. Ich hatte keine Zeit, die Schauspieler zu betrachten. Ich erinnere mich nur, wie ungeheuer groß das Gebäude wirkte. Wenn ich mich umdrehte, sah ich ein Meer von Gesichtern sich ausdehnen, so weit, daß fast die Unterscheidungskraft des Auges aufhörte, bis zu den fernen Kreisen, wo, in leuchtendem Licht, eine Sitzreihe über der andern sich erhob. Die Decke war blau und in der Mitte hing eine große sanfte Lampe, wie ein Mond, in solcher Höhe, daß ich die Kette, an der sie aufgehängt war, nicht sehen konnte. Alle Sitze waren schwarz. Ich bildete mir ein, das Theater sei ganz mit schwarzem Samt ausgeschlagen, mit Silberfransen geschmückt, die wie Tränen glitzerten. Das Publikum war ganz in Weiß.
Ganz in Weiß! – Ich fragte mich, ob ich etwa in dem Theater irgend einer tropischen Stadt sei – warum war alles in Weiß? Ich konnte es nicht erraten. Bisweilen glaubte ich durch ferne Erkerfenster eine mondbeglänzte Landschaft zu sehen, in der die Zweige der Palmen, wie ungeheure Spinnen, schwankende Schatten warfen. Die Luft war süß von einem seltsamen und neuen Duft, es war eine schläfrige, schlaffe Luft, in der unzählige weiße Fächer, die hin und her bewegt wurden, kein Geräusch, keinen Laut hervorriefen.
Es war eine seltsame Stille und ein seltsames Schweigen. Aller Augen waren der Bühne zugewandt, nur die meinen nicht. Ich blickte nach allen Seiten, nur nicht nach der Bühne. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt nicht nach der Bühne hinschaute. Keiner beachtete mich, keiner schien zu bemerken, daß ich als einziger in der großen Versammlung in Schwarz gekleidet war – ein einziger dunkler Fleck in einem Meer von weißem Licht.
Allmählich schienen mir die Stimmen der Schauspieler schwächer und immer schwächer zu werden – schwache Töne wie Geflüster aus einer andern Welt – einer Welt von Geistern! – und die Musik klang nicht wie Musik, sondern nur wie ein Echo im Gemüt der Hörer, wie eine Erinnerung an Lieder, die man in vergangenen Jahren gehört und vergessen hatte.
Manche Gesichter erschienen mir sonderbar vertraut – Gesichter, die ich zu anderer Zeit schon irgendwie gesehen zu haben meinte. Aber niemand erkannte mich.
Eine Frau saß vor mir – eine schöne Frau mit Haaren so golden wie die Locken der Aphrodite. Ich fragte mein Herz, warum es so seltsam schlug, wenn ich meine Augen auf sie richtete. Mir war, als wolle es meiner Brust entfliehen und sich zitternd ihr zu Füßen werfen. Ich beobachtete die zierlichen Bewegungen ihres Nackens, über den ein paar lose, glänzende Locken fielen wie Goldbänder, die sich um eine Säule aus Elfenbein winden. – Die sanfte Rundung der Wange schimmerte in zartem Rot wie die samtene Haut eines halbreifen Pfirsichs; die Anmut der schwellenden Lippen sah ich, dieser Lippen, so süß wie die der Venus von Knidos, die noch nach zweitausend Jahren wie von den Küssen des letzten Liebhabers feucht erscheinen. Aber die Augen konnte ich nicht sehen.
Und ein seltsamer Wunsch erwachte in mir, ein heftiges Verlangen, diese Lippen zu küssen. Mein Herz sagte: Ja; – meine Vernunft flüsterte: Nein! Ich dachte an die zehntausend mal tausend Augen, die sich plötzlich mir zuwenden würden. Ich sah mich um; und mir war es, als sei das ganze Theater noch größer geworden! Die Sitzreihen