Mami Staffel 6 – Familienroman. Claudia Torwegge
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In der Fußgängerzone herrschte das übliche Gewimmel. Junge Leute in XXL-Outfits, Baseballkappen im Nacken und Walk- oder Discman auf den Ohren scateten geschickt auf ihren Bladers zwischen den Fußgängern herum, jede kleine Lücke ausnutzend, um ihre Kunst vorzuführen.
Alte Damen mit kleinen Hündchen bevölkerten die Bänke rund um die Kastanien, arme Häute, die, ihre gesamte Habe in Plastiktüten verpackt, bittend die Hand ausstreckten oder teilnahmslos in einem Hauseingang hockten, Rentner, die die Stöcke aufgebracht schwingend über Politik diskutierten oder den Scatern hinterherschimpften, Pärchen, die händchenhaltend herumschlenderten – kurz, das ganze buntgemischte Bild einer Großstadt hatte sich hier konzentriert und erfüllt die Straße mit Leben.
Ab und zu warf Nathalie einen verstohlenen Blick zu ihrer Tochter hinüber, aber Sandra war nicht so leicht zu versöhnen. Ihre Haltung, die zusammengepreßten Lippen, das vorgeschobene Kinn – alles erinnerte Nathalie an Werner. Auch er konnte stundenlang schmollen, wenn etwas nicht nach seinem Kopf ging.
Andererseits konnte Nathalie ihre Tochter sehr gut verstehen. Sie hätte in Sandras Alter wahrscheinlich auch keine Luftsprünge gemacht, wenn man ihr eine Brille verordnet hätte. Für ein vierzehnjähriges Mädchen, das davon träumte, als Schauspielerin oder Fotomodell Karriere zu machen, war dieses Urteil »Brillenträger« geradezu eine Katastrophe.
Dabei nützte es gar nicht, Sandra zu erzählen, daß weiß Gott wie viele der Stars, die sie bewunderte, ebenfalls kurzsichtig waren und Brillen oder Kontaktlinsen trugen. Mädchen in Sandras Alter wollten so etwas nicht hören, sie glaubten ganz einfach, daß ihre angebeteten Stars vollkommen sind, und das ist ja wohl auch irgendwo richtig so.
Nach drei Wochen unergiebiger Diskussionen hatte Nathalie es jedenfalls aufgegeben, ihr Töchterchen umstimmen und überzeugen zu wollen.
Jetzt deutete sie auf die Auslage eines bekannten Brillenherstellers, der seine Ladenkette über ganz Deutschland verbreitet hatte.
»Schau mal, da sind ein paar ganz flotte Modelle dabei«, versuchte Nathalie, das Interesse ihrer Tochter zu wecken.
Sandra warf nur einen Blick auf den Namenszug über dem Schaufenster und erstarrte.
»Nein!« entschied sie entsetzt. »Da setze ich keinen Fuß rein.«
»Verlangt ja niemand von dir«, erwiderte Nathalie gelassen. »Du sollst dir einfach mal die Brillen ansehen. Ich wette mit dir, daß du noch gar keine Vorstellung davon hast, was du überhaupt tragen möchtest.«
»Stimmt«, fauchte Sandra. »Ich will nämlich überhaupt keine Brille tragen. Und falls du dir einbildest, daß ich mit so einem No-Name-Produkt auf der Nase herumlaufe, dann kannst du die Sache endgültig vergessen. Ich lasse mich doch nicht von den anderen auslachen.«
»Okay, es muß also ein Markengestell sein«, seufzte Nathalie nachgiebig. »Und was ist da bei euch in der Klasse so angesagt?«
Sandra zuckte die Schultern und bockte.
Sie war nicht bereit, es ihrer Mutter auch nur ein kleines bißchen leichter zu machen.
»In Ordnung«, beschloß Nathalie. »Dann gehen wir eben weiter.«
Ohne auf Sandras verbissene Miene zu achten, setzte Nathalie ihren Weg fort und erreichte bereits nach wenigen Metern das nächste Geschäft.
»Ist das genehm?« erkundigte sie sich bei ihrer Tochter, die stur zu Boden starrte. »Schau mal, die haben sogar eine recht flotte Joung Collection. Eh, da sind ein paar echt witzige Modelle dabei. Jetzt guck doch mal.«
»Mhmmm«, machte Sandra nur, ohne den Kopf oder wenigstens die Lider zu heben.
Nathalie schluckte ihren Ärger hinunter, packte Sandra am Ärmel ihres XXL-Sweatshirts und zerrte sie in den Laden.
Die Einrichtung und Dekoration war genau auf den Geschmack junger Leute abgestimmt. Futuristische Accessoires, Dance-, Biker-, Raver- und Hiphop-fans kamen hier voll auf ihre Kosten. Welcher Überzeugung man auch angehörte, Teens und In-Twens brauchten hier keine Angst zu haben, daß ihre Brille etwa nicht dem neuesten Stand entsprach.
Nathalie atmete erleichtert auf, als sie sah, daß Sandras Augen doch ein wenig interessiert zu funkeln begannen, während sie sich vorsichtig in dem schicken Laden umsah. Doch Nathalie war schlau genug, Sandra nicht auf das Ambiente anzusprechen, etwa in der Form: »Na, was sagst du, das ist doch genau das, was dir gefällt?«
Mütter wußten nie, was ihren Töchtern gefiel. Sie waren hoffnungslos altmodisch und hatten keine Ahnung. Das war eine Tatsache, die man als Erwachsener besser akzeptierte, sonst machte man sich in den Augen der Teenies hoffnungslos lächerlich.
Statt sich also begeistert über das Interieur zu äußern, wandte Nathalie ihre Aufmerksamkeit dem Verkäufer zu, der gerade aus einem Nebenraum trat und mit einem verbindlichen Lächeln auf den Lippen zu ihnen kam. Aber das Lächeln gefror zu einer grotesken Maske auf seinem Gesicht, als er die Kundin erkannte.
Nathalie erstarrte ebenfalls. Sie kam sich vor, als hätte ihr jemand mit einer riesigen Turbospritze das gesamte Blut mit einem einzigen Zug aus den Adern gesogen. Der Schrecken über dieses unverhoffte Wiedersehen fuhr ihr so in die Glieder, daß sie tatsächlich am ganzen Körper zitterte.
Ihr Gegenüber erholte sich schneller von dem Schock. Seine Miene wurde abweisend.
»Sie wünschen?« erkundigte er sich eisig.
»Meine Mutter wünscht«, maulte Sandra, die nichts von den Spannungen spürte, die plötzlich wie Elektrizität in der Luft schwirrten. »Ich kann auf so’n Omading verzichten.«
»Halt den Mund, Sandra!« Nathalies Stimme klang schärfer als beabsichtigt. Hastig versetzte sie ihrer Tochter einen leichten Stups in die Seite und wandte sich erneut dem Verkäufer zu.
Das Schicksal meinte es heute wirklich nicht sonderlich gut mit ihr.
Aber sie war nicht der Typ, der den Kopf in den Sand steckte und hoffte, daß das Unheil an ihr vorbeiging, ohne sie zu bemerken. So was tat ein mißgünstiges Schicksal nie.
Nathalie beschloß, die ganze Sache positiv zu sehen und sich zu entschuldigen. Vielleicht war es ja genau das, was die Vorsehung von ihr wollte?
»Es tut mir leid«, hob sie an. »Und es ist mir schrecklich peinlich. Ich habe mich wirklich unmöglich benommen.«
Der Verkäufer betrachtete sie einen Moment voller Argwohn, dann entspannte sich seine Miene.
»Also gut«, gab er nach. »Jeder hat mal einen schlechten Tag.«
»Das kann man wohl sagen«, entfuhr es Nathalie erleichtert. »Mich hat’s heute besonders schlimm erwischt. Deshalb war ich auch so ungehalten.« Sie musterte ihn einen Moment, suchte nach Spuren ihres Zusammenstoßes. »Hat es sehr wehgetan?«
»Was?« fragte der Mann zurück, ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen. »Meinen Sie die Finger, die Sie mir in der Tür gequetscht haben, das Brustbein, das Sie mir eingerannt haben, oder die Ohrfeige, die ich auch noch einstecken mußte?«
Sandra