Staatsmann im Sturm. Hanspeter Born
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Henry Vallottons einleuchtender Bericht aus Berlin leistet Bundesrat und General einen wertvollen Dienst. Er hat wohl auch noch einen Nebenzweck. Sein ehemaliger lieber Freund Marcel soll sehen, dass der Bundesrat einen Fehler beging, als er ihm, Vallotton, den Solothurner Frölicher als Berliner Gesandten vorzog: Schau nur, wie ich es besser mache als euer farbloser, schwacher Frölicher.
Nachdem an der Westfront ausser einem gegenseitigen Abtasten seit fünf Monaten nichts geschehen ist, beginnt man von einer drôle de guerre zu reden – deutsch auch Sitzkrieg genannt, englisch phoney war. Keine besonderen Vorkommnisse – rien à signaler – liest man oft in den Kriegstagebüchern. Wann wird es richtig losgehen? Wer wird zuerst zuschlagen, die Deutschen oder die Alliierten? Und wo werden sie es tun? Auf beiden Seiten wird geplant. Die Vorbereitungen für Operationen, von denen man die Entscheidung erhofft, laufen auf Hochtouren. Die Wehrmacht, angetrieben von Hitler, verfeinert die Pläne für eine Offensive gegen Frankreich, die aus Wettergründen immer wieder verschoben wird. Tatsächlich verunmöglicht der geradezu arktische Winter 1940 kriegerische Handlungen auf dem Land. Auf Seiten der Alliierten diskutiert man Möglichkeiten zur Verschärfung der Blockade. Frankreich und England diskutieren Pläne zur militärischen Unterbindung der Transportwege für schwedisches Eisenerz. Dieses erreicht die deutschen Häfen via die norwegische Atlantikküste und ist für die deutsche Schwerindustrie unerlässlich.
In der Schweiz wird weiter am Ausbau der Armeestellung gearbeitet, die sich von der Festung Sargans, den Gewässern des Walensees, der Linth, des Zürichsees folgend, über die Kämme des Aargauer- und Basler Juras bis zum Plateau von Gempen erstreckt. Man diskutiert über die eventuelle Evakuation der Zivilbevölkerungen. Auch in Pilets Post- und Eisenbahndepartement übt man den Ernstfall. Was tun, wenn Sender oder Studios zerstört oder unterbrochen sind? Pilet will nichts schriftlich festhalten, weil er Indiskretionen, die dem Feind helfen könnten, vermeiden will.
Wenn man hingegen in der Armee wissen will, was wir vorgesehen haben, kann man einen Vertrauensmann bezeichnen, der mit dem meinigen Kontakt aufnehmen kann, ausser der General will mit mir selber sprechen.
Der General will in den Eisenbahnwagen ein Plakat hängen lassen mit der Aufschrift «Wer nicht schweigen kann, schadet der Heimat». Es soll Wehrmänner vom Ausplaudern militärischer Geheimnisse abhalten. Eisenbahnmilitärdirektor Paschoud hält nichts von der Massnahme. Pilet auch nicht. Er bringt das Anliegen des Generals gleichwohl vor den Bundesrat, der es – «zumindest in der vorgesehenen Form» – verwirft.
Obschon die Schweiz vorerst vom Krieg verschont bleibt, leiden viele Not. Die Stiftung «Schweizerische Nationalspende für unsere Soldaten und ihre Familien» unterstützt kranke oder verunfallte Wehrmänner. Auf Bitte des mit ihm befreundeten Journalisten Léon Savary schreibt Pilet einen Artikel für eine der Nationalspende und dem Roten Kreuz gewidmete Sondernummer der Tribune de Genève, Die Zeitung druckt den handgeschriebenen Aufruf des Bundespräsidenten gross auf zwei Seiten als Faksimile ab.
Viele Auslandschweizer, die seit Kriegsausbruch in die Heimat zurückgekehrt sind, haben ohne eigenes Verschulden ihre Stelle verloren oder sind sonst in Not geraten. In Lausanne hat ein umtriebiger Geschäftsmann namens Charles Beck einen «Landesverband der heimgekehrten Auslandschweizer» ins Leben gerufen. Er knüpft Kontakte im ganzen Land, errichtet Zweigstellen, sammelt Geld bei Firmen und Privaten. Der Verkauf eines Hefts von sogenannten Verschlussmarken – timbresvignettes – soll die Kassen des Hilfswerks füllen. Beck schreibt Pilet mit der Bitte um eine Audienz. Er höre sich täglich die Klagen von Hunderten von Heimkehrern an, die Gefahr liefen, gegen das eigene Land verbittert zu werden. Er könne dem Bundespräsidenten Dinge mitteilen, die den «offiziellen Diensten» verborgen blieben.
Pilet zieht Erkundigungen ein. Er erfährt, dass bereits eine offizielle «Zentralstelle für Beratung und materielle Unterstützung der Rückwanderer» existiert. Ihr Präsident, Gymnasiallehrer A. Lätt, warnt vor Becks Organisation, die mit ihren Sonderaktionen die Sympathien des Publikums missbrauche. Robert Jaquillard, Waadtländer Polizeikommandant, schickt seinem Freund Pilet ein Résumé des Dossiers, das über Charles Beck – «un individu très suspect» – angelegt worden ist. In jungen Jahren ist der Neuenburger Beck in Berlin wegen Veruntreuung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden. Er hat später in Frankreich Firmen in der Automobilbranche gegründet, die Konkurs machten. 1937 wurde er in Lausanne wegen Waffenschmuggels nach Spanien verhaftet und zu 500 Franken Busse verurteilt.
Der so gewarnte Pilet bleibt zu Beck auf Distanz, teilt ihm jedoch mit, dass in Bern, «unter dem Patronat meiner Frau» eine Veranstaltung zugunsten der Rückkehrer vorbereitet werde. Auf Wunsch Pilets hat der Geschäftsträger von Panama, der bisher jeden Winter im Hotel Bellevue ein Galadiner für das diplomatische Korps gegeben hat, angesichts der internationalen Lage dieses durch ein Wohltätigkeitskonzert ersetzt. Die von Mme Pilet patronierte Veranstaltung bringt einen Sammelertrag von 7300 Franken ein – mehr als das Doppelte der von Pilet geschätzten Summe.
Im April erhält Pilet einen dreisten Brief, in dem Beck sich erstaunt zeigt, dass sein Verband bisher von Madame Pilet-Golaz keinen Scheck erhalten habe:
Vielleicht ist diese Summe irrtümlicherweise an eine andere Institution ausbezahlt worden, obwohl unsere Organisation die einzige ist, die die Rückkehrer hier in der Schweiz zusammenfasst. Unser Verband zählt gegenwärtig Vereine, deren Mitglieder in die Tausende gehen. Die Mehrheit davon ist wegen des Kriegs in einer kritischen Lage, und es besteht grosse Dinglichkeit, ihnen zu helfen, nachdem die existierenden Organisationen nichts tun und die offizielle Hilfe leider ungenügend ist.
Postwendend informiert Pilet Beck, dass er persönlich die erwähnte Summe von Madame Pilet erhalten und dann das Geld an die Zentralstelle und die Pro Juventute überwiesen habe.
Beck lässt sich nicht entmutigen. Er druckt sein Büchlein mit 20 Marken, auf denen Soldaten in fremden Diensten – «Reproduktionen aus der berühmten Pochon-Sammlung in der Landesbibliothek» – abgebildet sind, und verkauft es für 2 Franken. Um die hundert, meist erstrangige Schweizer Unternehmen, angeführt von Nestlé, haben die Druckkosten bezahlt. Über die Verwendung des bei der Aktion erzielten Gewinns braucht Monsieur Beck niemandem Rechenschaft ablegen.
19. Umschiffte Klippen
Zwei Fragen beschäftigen im Februar 1940 die eidgenössischen Räte: 1. Wer soll als Nachfolger Mottas in den Bundesrat gewählt werden? 2. Soll der Bundesratsbeschluss über die Ordnung des Pressewesens – auch Neutralitätsverfügung oder Zensurartikel genannt – in Kraft bleiben oder aufgehoben werden?
Die Motta-Nachfolge ist Gegenstand von Rangeleien und Ränkespielen. Aus staats- und aussenpolitischen Erwägungen drängt sich die Wahl eines Tessiner Konservativen auf. Im allseits geachteten Finanzexperten Ruggero Dollfus, dem Generaladjutanten der Armee, hat die Tessiner Kantonspartei einen Mann von Format zur Verfügung. Doch dann bringen Rivalen in der eigenen Kantonspartei, Tessiner Liberale, Walliser und Freiburger Konservative, die selber gerne einen eigenen Bundesrat hätten, die Kandidatur des in einem Schloss im bernischen Kiesen wohnenden schwerreichen, überdies protestantischen Bankiers zu Fall.
Es wird über mögliche weitere Vakanzen diskutiert. Kann der kranke Obrecht weitermachen? Ist Minger oder Baumann amtsmüde? Allerhand Kombinationen wären bei einer Zweierwahl denkbar, auch der Einbezug der Sozialisten. Weil jedoch kein anderer Bundesrat zurücktritt, präsentiert «Königmacher» Heinrich Walther den in Bern kaum bekannten Tessiner Staatsrat Enrico Celio. Walther trägt den Ruf des Königmachers zurecht. Der 78-jährige Luzerner ist seit 1919 Fraktionschef der Katholisch-Konservativen