Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld
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Er klappte seinen Laptop auf und klickte einige abgespeicherte Dokumente an.
„Ich bin im Wedeler Archiv auf einen Mann namens Johannes Heinsohn gestoßen“, sagte er. „Er stammte aus einer alten Seefahrerfamilie, wurde in Wedel geboren, laut Kirchenregister im Jahr 1619, lebte und starb auch in dieser Stadt. Heinsohn war Steuermann und fuhr jahrelang auf einem Hamburger Handelsschiff, einer Karacke namens ‚Anna von Stralsund‘. Im Mai 1658 kehrte er von einer Afrikafahrt zurück. Das Schiff hatte Elfenbein und Zuckerrohr in Kamerun aufgenommen, die Fracht wurde im Hamburger Hafen gelöscht.“
Shahin stützte den Kopf auf die Arme und hörte sehr konzentriert zu. Lindberg bemerkte, dass sie eine kleine Haarsträhne beim Binden ihres Pferdeschwanzes übersehen hatte; sie hing hinter ihrem linken Ohr herunter. Er lächelte und blickte wieder auf den Bildschirm des Computers.
„Es ist ein Glücksfall für uns, dass Heinsohn während der Reise eine Art Tagebuch führte, das er später daheim seiner Familie vorlesen wollte. Damals gab es ja noch kaum Zeitungen, und Nachrichtenmagazine schon gar nicht. Solche persönlichen Tagebücher von Reisenden berichteten den Familien allerlei über die große Welt draußen. Aus Heinsohns Tagebuch erfahren wir, dass er auf der Rückfahrt von Afrika schwer erkrankte und beinahe starb. Er habe viel Blut verloren, schrieb er.“
Shahin kniff die schwarzen Augen leicht zusammen. „Wissen wir, woran er erkrankte?“
Lindberg lehnte sich knarrend im Stuhl zurück. „Nicht genau, nein. Es ist in den Aufzeichnungen bezüglich dieses Blutverlustes aber ausdrücklich von einer Krankheit und nicht von einer Verletzung die Rede. Heinsohn litt bis zu seinem Tod im Jahr 1662 an heftigen Schmerzen und erblindete fast; seinen Beruf als Seemann konnte er nicht mehr ausüben. Die Blutungen und die Spätfolgen wären in der Tat typisch für ein hämorrhagisches Fieber, hat Dr. Winter mir gesagt. Die letzten Jahre hat Heinsohn sein Haus nur noch selten verlassen.“
Die Hauptkommissarin sah ihn skeptisch an. „Ein hämorrhagisches Fieber? Wie Ebola oder Lassa? Gab es das damals überhaupt schon?“
„Die meisten Erkrankungen, mit denen sich Menschen heute herumplagen müssen, gibt es bereits seit Jahrtausenden“, sagte Lindberg. „Es gab nur nicht jede Krankheit überall auf der Welt. Zum Beispiel waren Pocken, Masern oder die Grippe im Mittelalter in Amerika völlig unbekannt. Der Vernichtungszug der spanischen Konquistadoren gegen die Reiche der Azteken und Maya war nur deshalb möglich, weil die indigenen Menschen wie Fliegen an diesen eingeschleppten Krankheiten starben. Diese Krankheiten gab es dort vorher nicht. Und daher besaßen die Menschen auch keine Abwehrkräfte.“
Lindberg schenkte der Polizistin noch einmal Kaffee nach.
„Stellen wir uns einfach mal vor, dass Heinsohn in Afrika mit einem hämorrhagischen Fieber infiziert wurde, das er jedoch überlebte. Er blieb aber weiterhin für eine Weile der Träger dieses Virus und könnte bei seiner Rückkehr nach Wedel durch Körperkontakt oder infektiöse Wäsche, Kleidung oder Gegenstände seine Familie angesteckt haben. Wie die Akten im Stadtarchiv von Wedel zeigen, starben Heinsohns Frau und Sohn kurz nach seiner Rückkehr und wurden auf dem alten Friedhof an der Kirche beigesetzt.
„Wie wahrscheinlich ist es denn, dass ein Mensch im 17. Jahrhundert ein hämorrhagisches Fieber überleben konnte?“, fragte Shahin. „Eine ärztliche Versorgung und geeignete Medikamente gab es ja wohl noch nicht. Und diese Pestärzte mit ihren seltsamen Vogelmasken hatten doch keine Ahnung, womit sie es zu tun hatten.“
„Sie haben völlig recht. Für die damalige Zeit würde es wirklich an ein Wunder grenzen, dass Heinsohn überlebte. Wenn es ein hämorrhagisches Fieber war“, räumte Lindberg ein. „Wie mir Dr. Winter erzählte, liegt die Sterblichkeitsrate bei Ebola zum Beispiel – abhängig vom Virustyp – in unserer Zeit zwischen dreißig und neunzig Prozent. Beim Ausbruch 2014 und 2015 in Westafrika lag die Rate im Durchschnitt bei dreiundsechzig Prozent. Und dies bei intensiver medizinischer Betreuung. Das Erstaunliche ist aber: Es gibt tatsächlich Menschen, die diese Krankheit aus eigener Kraft überleben können. Und es gibt sogar Menschen, die aus bislang unbekannten Gründen vollkommen immun gegen bestimmte Ebolaviren sind. Wer die Krankheit überlebt, bleibt mindestens einige Jahre lang immun.“
„Warum erkrankte die Schiffsbesatzung dann nicht auch?“, warf Shahin ein.
„Das wissen wir doch gar nicht“, entgegnete Lindberg. „Aufzeichnungen darüber gibt es nicht. Die Inkubationszeit bei Ebola kann bis zu drei Wochen betragen. Wir wissen nicht, wann Heinsohn andere Menschen angesteckt haben könnte und wie eng der Kontakt zur Besatzung gewesen war. Es ist möglich, dass die Krankheit bei der übrigen Besatzung erst ausbrach, als das Schiff schon im Hafen lag. Im Übrigen dürfte man in Zeiten der Pest auf einem Schiff einen Kranken mit derartig dramatischen Symptomen sehr schnell und wirksam isoliert haben. Wir können hier nur spekulieren. Theoretisch ist es sogar möglich, dass Heinsohn niemanden an Bord infizierte, eben weil er in seiner Koje blieb. Aber hier bewegen wir uns auf dünnem Eis.“ Lindberg blickte wieder auf seinen Laptop. „Heinsohns Aufzeichnungen aus den letzten Jahren sind schwer zu entziffern, weil er kaum noch etwas sehen konnte und seine Schrift sehr krakelig wurde. Aber er beklagt sich darin, dass man ihn miede, weil er angeblich den Tod bringe. Den ‚Schnitter‘ habe man ihn gerufen. Niemand wolle mit ihm zu tun haben. Jeder laufe fort, wenn Heinsohn sich näherte; er wurde mit Flüchen bedacht und mit Steinen beworfen. Wie schon gesagt: Er hat dann sein Haus kaum noch verlassen.“
Becca Shahin sah nachdenklich aus dem Fenster auf den parkartigen Garten, der das Herrenhaus Annettenhöh umgab. Lindberg bemerkte, dass ihre Augen wirklich pechschwarz waren wie die Nacht; sie erschienen geradezu bodenlos. Schwindel überkam ihn. Er riss sich von dem Anblick los.
„Ein Mann, der den Tod bringt, wenn er jemanden berührt oder vielleicht auch nur mit ihm redet“, sagte sie gerade, „der aber selbst nicht an dem Übel stirbt, das er verbreitet. Seine Zeitgenossen müssen damals ja befürchtet haben, dass Heinsohn in Afrika, diesem unheimlichen, rätselhaften, dunklen Kontinent mit seinen Hexern und Schamanen, von einem todbringenden Dämon erfasst worden war, der nun in ihm nistete.“
Lindberg nickte. „Ja. Das ist sehr wahrscheinlich. Diese harte Zeit war voller Aberglauben, Furcht vor Dämonen, Wiedergängern und Teufeln. Und wie bestattet man einen Mann, der einen Dämon in sich trägt, dessen Atem und Berührungen tödlich für andere Menschen sind?“, fragte er.
„Mein Gott, Sie haben recht! Nach dem, was Sie berichten, spricht vieles dafür, dass der Tote in dem Bleisarg tatsächlich Johannes Heinsohn ist!“, rief Shahin aus. „Aber warum hat man ihn nicht einfach verbrannt?“
„Genau diese Frage habe ich auch Dr. Winter gestellt“, entgegnete Lindberg. „Sie vermutet, dass man damals befürchtet hat, mit dem Feuer und dem aufsteigenden Rauch könne man das Miasma des Todes erst recht verbreiten. Wer weiß, vielleicht hat man ja an einen Höllendämon im Körper Heinsohns geglaubt, den das lodernde Feuer freisetzen würde. Aus diesem Grund hat man wohl auch das Zeichen des heilkundigen Dämons Buer in die Wände des Sarges geschnitten. Nur eben verkehrt herum – mit der Bedeutung, dieser Dämon heile nicht, sondern töte per Krankheit.“
„Es ist schon gespenstisch“, sinnierte Shahin. „Da haben sich die Menschen vor dreihundertfünfzig Jahren so viel Mühe gegeben, diesen todbringenden Dämon für alle Zeiten einzusperren – und nun ist er wieder da. Und wird vielleicht unzählige Menschen töten.“