Zurückbleiben bitte!. François Grosso

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Zurückbleiben bitte! - François Grosso Textlicht

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Unruhe ist der Damm der Angst gebrochen und lässt Anja in einen Fluss der Panik geraten. Auf einmal verkrampft sich das Herz und klopft wie ein Hammer gegen die vorderen Rippen, immer schneller, immer heftiger, als hätte es im Brustkorb nicht genug Platz. Die Luft wird dünn, Schweißperlen rinnen auf ihrem Rücken, in ihr Dekolleté. Landstraße, Bahnhof Wien Mitte. Umsteigen zur S-Bahn und zu den Zügen der ÖBB, zu den Linien U3, O und 74A sowie zum City Airport Train Richtung Flughafen Wien. Ausstieg links. Mit der zitternden linken Hand wühlt Anja in der Handtasche, die wie eine unerträgliche Last von ihrer Schulter hängt. Scheiße! Auch wenn sie zu Hause das rosarote Dragee einnimmt, wird ihr die Pille nicht mehr viel helfen können.

      Jetzt gibt es kein Zurück mehr, jetzt muss sie kämpfen, jetzt muss sie da durch. Es wird fünf, zehn, maximal fünfzehn Minuten dauern, und dann wird sie erschöpft sein. Das erste Mal hatte sie gedacht, sie erleide einen Herzinfarkt. Früher wäre sie auch geflüchtet, wäre einfach bei der nächsten Station ausgestiegen. Wie an dem Samstag, als Rapid im Hanappi-Stadion spielte und sie letztendlich eine Dreiviertelstunde gebraucht hatte, um von der Pilgramgasse bis zu einer Freundin in Unter Sankt-Veit zu fahren, weil sie wegen all der Anhänger mit ihren grün-weißen Kappen, Trikots und Schals bei der Längenfeldgasse und in Hietzing Pausen hatte einlegen müssen.

      Aber Anja ist keine Anfängerin mehr. Jetzt sitzt sie einfach nur in einer Ecke, bleibt tapfer, Erstarren statt Flucht, spürt aber wie immer die Verletzbarkeit jedes Einzelnen ihrer Körperteile und würde sich am liebsten in eine Schnecke verwandeln, um sich in ihr sicheres Haus verkriechen zu können. Die Luft ist schwül und stickig, das Abteil voll wie eine Sardinenbüchse. Die Strecke zwischen zwei Stationen dauert ungefähr eine bis zwei Minuten, für Anja eine Ewigkeit, via crucis U4. Von den anderen Fahrgästen fühlt sie sich langsam wie von einer durchsichtigen Wand getrennt, sie möchte mit den Fäusten auf sie losgehen, um sicher zu sein, ob sie wirklich da sind, ob das Ganze kein böser Traum ist. An der Existenz des alten Paares gegenüber kann man allerdings kaum zweifeln. Seit dem Schottenring vergleichen sie die Ausstattung der Züge und der Stationen mit der Berliner U-Bahn. Sie lächeln, sie sind zufrieden, Wiener Linien. An den beiden Burschen dahinter auch nicht, die über ihre Freundinnen lästern und dabei dämlich grinsen.

      Aber das ist nicht gut, du solltest dich doch nicht so von der Außenwelt einschüchtern lassen. Setz die Scheuklappen einfach auf! Du kennst doch den Trick, es wurde dir schon tausendmal gesagt: Versuch nur, dich auf etwas ganz anderes zu konzentrieren, bilde dir ein, dass jemand, den du lieb hast, neben dir sitzt, deine beste Freundin, Schubert, Kafka, egal, versetz dich gedanklich an einen Ort, an dem du dich wohl und geschützt fühlst, und vor allem vergiss den eigenen Körper. Du bist stärker als dein Körper, und du weißt es, das sind falsche Signale, die er dir sendet. Nichts Schlimmes, ein ganz normaler, nachvollziehbarer Somatisierungsprozess. Mit dem Daumen dreht Anja ihren i-Pod lauter, The Colored Cubes, und versucht sich einzig und allein auf die Gitarrenakkorde, die einzelnen Töne, auf die rundwarme Stimme der Sängerin zu konzentrieren, als existiere nichts anderes auf der Welt: You know I’m not unbroken / But you know that I am real / All those words I have spoken / Let you know how I feel … Es gelingt ihr aber nicht ganz, die unmittelbare Umwelt auszuschalten. Im Hintergrund sagt die männlich-depressive Stimme für jede Station alles Mögliche an, Einrichtungen oder Sehenswürdigkeiten, Umsteigemöglichkeiten, Ausstiegsanweisungen.

      2-Ton-Gong

      Karlsplatz, Oper. Umsteigen zu den Linien U1, U2, D, 1, 2, 4A, 59A, 62 und zur Lokalbahn nach Baden sowie zur Linie 3A. Ausstieg links.

      Es folgt ein fürchterliches Hin und Her bei den Türen.

      Blut pocht gegen Anjas Schläfen.

      Dann ertönt die Stimme der Volkschullehrerin.

       Zurückbleiben bitte!

      Jemand schummelt sich noch schnell rein.

      Luft kommt nur noch durch den Mund, aber bleibt im Rachen stecken und kommt nicht weiter.

      Bip-Bip-Bip-Bip-Bip-Bip-Bip

      Schlack!

      Zug fährt ab.

      „Klappehalten bitte, blöde Kuh!“, denkt Anja plötzlich laut, und die alte Berlinerin, die offensichtlich den Satz persönlich nimmt, durchbohrt sie mit Blicken. Pardon. Anja verkriecht sich noch mehr und hält ihren i-Pod noch fester in der Hand, wie ein Amulett. Das Herz wird bald platzen, es will heraus. Den Puls spürt sie sogar in ihren Fingerspitzen. Although sometimes I felt unsafe / If I fall, I stand up again

      Kettenbrückengasse, Naschmarkt. Ausstieg rechts.

      I won’t give up, cause I am brave / So I’ve thrown off my inner chains

       Zurückbleiben bitte!

      Bip-Bip-Bip-Bip-Bip-Bip-Bip

      Schlack!

      Zug fährt ab.

      Anja kommt sich jetzt wie eine Marathonläuferin vor, die in den letzten Metern vor dem Ziel nicht zusammenbrechen darf. Die letzte Kurve, die stehenden Fahrgäste halten sich an den Haltegriffen fest, Pilgramgasse, Umsteigen zu den Linien 13A und 14A, links ziehen die hohen Bäume vor dem Rüdigerhof vorüber, sowie zur Linie 12A, Ausstieg rechts, das rosarote Lesben- & Schwulenhaus mit der hängenden Regenbogenfahne, gerettet!

      Oder halbwegs gerettet. Nur mit wiederholten „Tschuldigung“-Bekundungen kann sich Anja den Weg durch die Menge bis zur Tür bahnen. Es gibt keine Rolltreppe, aber auf der Stiege fühlt sie trotzdem, wie ihr linkes Bein nachlässt, wie ihr ganzer Körper dazu neigt, das Gleichgewicht zu verlieren. Vor dem Stationsgebäude angekommen, sieht sie sich schon zwischen „McDonald’s“ und „noodles & more“ auf die unebenen Pflastersteine fallen. „Man wird mich für eine Drogensüchtige halten“, denkt sie, nimmt ein letztes Mal ihren ganzen Mut zusammen und schafft es, das Geländer zu erreichen. Anja versucht, tief Luft in die Lunge zu pumpen, aber diese lässt sich nicht ausfüllen, als wäre sie um die Hälfte geschrumpft. Sie starrt in den Graben da unten, den lächerlichen Wienfluss, der den fünften vom sechsten Bezirk trennt. Es weht keine einzige Brise, nicht einmal ein leises Lüftchen. Ausgerechnet heute! Normalerweise bläst da immer Wind vom Wienerwald herunter. Anja hört Schritte hinter sich.

      „Verzeihung, geht’s Ihnen nicht gut?“, fragt eine männliche Stimme.

      „Danke, es wird schon gehen“, antwortet Anja, schaut aber immer noch auf das Rinnsal.

      „Sind Sie sicher? Soll ich nicht die Rettung rufen?“, fragt wieder die Stimme.

      „Nein, danke, sehr nett von Ihnen, aber es geht schon wieder“, antwortet Anja, dreht den Kopf leicht in seine Richtung und quält sich zu einem Lächeln.

      Langsam entfernen sich die Schritte des Samariters und vermischen sich mit denen der anderen Passanten. Vom Margaretengürtel kommt ein Zug quietschend um die Kurve, die Graffitis leuchten in der Sonne und erheitern die traurigen Mauern des Wienflusses, der zu einer riesigen Abflussrinne mitten durch die Stadt reguliert wurde. Eine Abflussrinne, ja, so ungefähr fühlt sich Anja in diesem Moment: entleert. Es dauert, aber langsam beruhigen sich doch Kopf, Lunge und Herz wieder. Anja bleibt noch ein paar Minuten am Geländer stehen und geht dann, von einem leichten Schwindel begleitet, in Richtung ihrer Wohnung.

      Wie in kaum einer anderen Stadt folgt das Wohnen in Wien einem Hof-Prinzip, als wolle sich der Wiener von der Straße abschirmen, als würde er lieber von den Geräuschen der Nachbarn als von der Stadt gestört werden. Der Wiener will mit seinem Innenhof im

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