Meine Trauer traut sich was. Andrea Riedinger

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Meine Trauer traut sich was - Andrea Riedinger

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ist dieser Satz: „Denk positiv!“, von dem ich selber genug habe. Immer wieder habe ich ihn gehört, immer wieder hieß es von außen: nicht aufgeben, kämpfen, es wird besser, lasst euch nicht unterkriegen. Und mein Gedanke dabei war immer: Du hast ja keine Ahnung, auch wenn ich wusste, dass der Zuspruch freundlich und gut gemeint war. Trotzdem steckte auch in mir die Haltung, negative Gedanken möglichst zu verbannen. Heute denke ich anders darüber. Es hätte mir und bestimmt auch meinem Mann gutgetan, wenn wir gleich zu Beginn seiner Krankheit unseren Ängsten und Befürchtungen mehr Raum gegeben hätten. Es waren sicher sehr ähnliche Sorgen und der Austausch hätte uns geholfen. Doch größtenteils verschwiegen wir sie und klammerten uns an die Hoffnung, dass schon alles gut gehen wird.

      Ich halte nichts davon, die Augen vor der Realität zu verschließen, doch trotzdem bin ich der Meinung, dass besonders am Anfang – immerhin hat der Blitz gerade erst eingeschlagen – jeder Mensch, der eine Krise durchlebt, und auch die nahen Angehörigen, Verständnis für negative Gedanken, Mutlosigkeit und Pessimismus verdienen. Schließlich stehen sie momentan einem Scherbenhaufen gegenüber. Wann, wenn nicht jetzt, darf man sein Leben denn anzweifeln? Wann ist es einem schon mal vergleichbar schlecht ergangen?

      Wenn von einem Haus nach einer Brandkatastrophe nur noch Schutt und Asche übrig sind, schockt allein der Anblick. Nichts ist mehr da: keine Möbel, keine Kleidung, keine Fotos, keine Dokumente. Auch wenn Betroffene zum Glück ihr Leben retten konnten, bleibt der Rest unwiederbringlich verloren. Wer könnte in diesem Moment zupacken, optimistisch nach vorne schauen und denken, dass das schon wieder hinzukriegen ist? Sicher kaum jemand. Und das ist nachvollziehbar.

      Ängste muss man aussprechen dürfen, denn allein schon die Auseinandersetzung mit ihnen nimmt den ersten Schrecken. Sorgen muss man teilen, um sie wieder in einem neuen Licht zu sehen. Seine Wut darf man äußern, denn unterdrücken schadet nur. Die Traurigkeit darf gelebt werden, denn jeder Mensch hat Trost verdient. Nach dem Brand ist der Vater der Familie vielleicht in erster Linie in Sorge, wo alle die kommenden Nächte verbringen sollen, die Mutter hingegen trauert um die vielen Erinnerungsstücke, der Sohn ist wütend auf den Verursacher und die kleine Tochter hat unheimliche Angst vor einer weiteren Feuerkatastrophe. Keine Reaktion in einer Krise gleicht der anderen. Menschen sind verschieden, das Schicksal unterschiedlich, die Lebenssituation eine andere. Was den einen traurig stimmt, macht den anderen wütend, den Dritten teilnahmslos oder weinerlich. Alles ist erlaubt, denn an diesem Punkt muss jeder einen eigenen Weg für sich finden. Stimmungsschwankungen sind an der Tagesordnung. Doch auch das ist völlig normal.

      „Denk positiv!“ ist kein Leitsatz, an dem wir uns von Anfang an festhalten sollten. Denn was heißt das denn im Umkehrschluss? Was ist, wenn ich einfach nicht positiv denken kann? Habe ich dann eine gewisse Mitverantwortung an meiner Situation? Störe ich den Heilungsprozess, verbaue ich mir selber den Weg, um wieder glücklich zu werden, verzögere ich den Wiederaufbau eines Hauses oder falle ich meinem Partner, der Familie oder dem Freundeskreis so unnötig zur Last?

      Ich bin der Meinung, es ist nicht richtig, hier irgendeine Art von Mitverantwortung zu unterstellen. Selbst in der Medizin herrscht keine Klarheit, ob eine kämpferische Einstellung und positives Denken bei schweren Krankheiten die Heilungschance erhöht oder nicht. Wer als echter Kämpfer gegen seine Krebserkrankung gilt, ist der frühere Radsportprofi Lance Armstrong. Ihm half seiner Meinung nach sein Lebensmotto „Live strong“ (Lebe stark) und er besiegte den Krebs. Glaubt man dagegen dem Deutschen Krebsforschungszentrum, so hat die Grundhaltung keinen Einfluss auf den Verlauf einer Krebserkrankung. Man muss nicht immer positiv denken und kämpfen. Bezogen auf den Radprofi bedeutet das, er hätte den Krebs auch ohne sein optimistisches Ziel, eine weitere Tour de France zu gewinnen, besiegt.

      Letztendlich ist es wie bei vielem: Das Extrem ist ungesund. Das soll heißen, es muss Platz für Gefühle wie Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit, einen Raum für Ängste, Tränen und Trauer geben. Aber die Auseinandersetzung mit den Themen sollte gleichzeitig dafür sorgen, dass der Blick irgendwann in die Zukunft gerichtet werden kann und die aktuelle Situation angenommen wird. Das Schimpfen, Weinen, Hadern und Mutlossein muss von Betroffenen einfach gelebt werden, damit sie die Gefühle hinter sich lassen können, um anschließend die Kraft für den nächsten Schritt aufzubringen.

      Es ist wie ein Atemholen, um neue Kraft zu schöpfen. Das lässt sich gut bei Kindern beobachten: Wenn ein Kind gerade auf dem Spielplatz vom hohen Klettergerüst gefallen ist, kommen die Eltern auch nicht herbei und sagen sofort: „Geht schon wieder“, wenn die Tochter oder der Sohn zu weinen anfängt. Das Kind wird getröstet und in den Arm genommen, bis der Schreck und der erste Schmerz verflogen sind. Diese kleine Auszeit hilft, dass sich das Kind meist von alleine wieder aufrappelt und Minuten später weiterrennt. Und genau das ist auch auf eine Krisensituation übertragbar. Nach dem ersten Schock braucht es Zeit zum Luftholen und Verständnis, bevor an ein „Weitermachen“ zu denken ist. Die Möglichkeit zur kleinen Atempause ist wie eine Kraftquelle und wirkt sicher besser, als wenn Betroffenen von Anfang an der Satz eingeimpft wird: „Es wird schon wieder alles gut werden, du musst nur daran glauben.“

      Eine Auszeit, ja ein gewisses Verharren und Stehenbleiben kann in der Anfangsphase einer Krise guttun. Doch zu lange sollte keiner den Atem anhalten. Dann wird es ungemütlich. Aber was können wir nun tun, um unserer Hilflosigkeit und dem Gefühl des Ausgeliefertseins entgegenzutreten? Wie kommen wir der Realität ein kleines Stückchen näher?

      Das Puzzlespiel

      Es ist Mittagspause und verhältnismäßig ruhig auf den Fluren der Onkologie. Andi und ich sitzen seitlich auf dem Krankenbett und brüten über einem Schriftstück. Wenn wir den Kopf heben, sehen wir durch das hohe Fenster eine graue Wolkendecke und Schneeregen. Winterwetter eben. Unsere Beine baumeln nebeneinander und wir haben den kleinen Nachttisch herangezogen, um den daraufliegenden Befund der Radiologie näher unter die Lupe zu nehmen. Das ist alles andere als einfach, denn trotz mehrfachem Lesen verstehen wir kaum ein Wort. Doch jede Kleinigkeit ist für uns wichtig.

      Neben dem Befund liegt aufgeschlagen der Pschyrembel, ein klinisches Wörterbuch, die Informationsquelle der Medizin. Das Blatt mit der Diagnose sieht langsam aus wie im Fremdsprachenunterricht, bei dem man Vokabeln übersetzt. Denn zu jedem unbekannten lateinischen Fachbegriff schreibe ich mit Bleistift die Übersetzung und gehe dann zum nächsten weiter. „Proliferation“, Andi blättert angespannt im Lexikon, bis die gesuchte Definition gefunden ist. „Wucherung“, seine Antwort. So geht das. Wort für Wort. Satz für Satz. Wie bei einem Puzzle setzen wir Stückchen für Stückchen zusammen, bis sich ein Bild ergibt, das uns erschüttert.

      In den ersten zwei Wochen nach dem Ausbruch von Andis Krankheit tappten wir, was die genaue Diagnose anging, ziemlich im Dunkeln. Es fanden zig Untersuchungen statt, doch wir bekamen keine klare Antwort. Diese Zeit war schrecklich und stark verunsichernd.

      Raumforderung! Mit diesem Begriff konfrontierten uns die Ärzte in den ersten Tagen ohne weitere Erklärungen. Doch was soll einem das als Laie sagen? Nach langem Warten vermuteten sie Entzündungen im Gehirn, vielleicht eine beginnende Multiple Sklerose, doch auch bösartiges Gewebe, also Krebs, stand nach wie vor im Raum. Ich kann verstehen, dass Ärzte sich erst einmal ein genaues Bild verschaffen müssen, doch niemand hat meinem Mann, selbst auf Nachfrage, den genauen Hintergrund der einzelnen Untersuchungen oder Begrifflichkeiten erklärt. Das Internet war es, was uns beide aufklärte. Diese Erfahrung war für Andi und auch für mich prägend.

      Auf jeden Fall sehe ich bei schweren Krankheiten den behandelnden Arzt oder auch den Hausarzt im Fokus. Wer nicht Medizin studiert hat, für den ist die Krankenhauswelt ein Buch mit sieben Siegeln. Jeder Patient tut sich schwer, Ergebnisse, Befunde und Aussagen einzuordnen. Doch mein Mann wurde allein in fünf verschiedenen Krankenhäusern behandelt. Den speziellen Arzt seines Vertrauens gab es nur phasenweise. Und selbst innerhalb eines Krankenhauses tauchten bei den Visiten immer wieder andere Ärzte auf: Chefärzte, Oberärzte, Assistenzärzte, Hämatologen, Onkologen, Radiologen, Strahlenexperten, Neurologen, Neurochirurgen und, und, und. Es gab keine Stelle,

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