Im Land des Feindes. Marthe Cohn
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Inhalt
Titel
Grenzüberquerung
Gebrochene Versprechen
Geplatzte Träume
Die Scherben auflesen
Eine ungewöhnliche Spionin
Erneute Grenzüberquerung
In der Höhle des Löwen
Die Kunst der Verstellung
Der Anfang vom Ende
Die Wahrheit und ihre Folgen
Aufbruch zu neuen Ufern
Der Kreis schließt sich
Epilog
Bildteil
Danksagung
Zitat- und Bildnachweis
Autorenporträt
Übersetzerporträt
Über das Buch
Impressum
Gefährliches Terrain
Für Angst blieb keine Zeit. Meine Mission war eindeutig. In einer klirrend kalten Nacht im Februar 1945 verließ ich kurz vor Mitternacht mit vier Offizieren und zwanzig marokkanischen Soldaten die französische Kleinstadt Thann. Die Männer waren mit Maschinengewehren, Maschinenpistolen und Handgranaten bewaffnet und für die Kälte bestens gewappnet. In meiner Rolle als Martha Ulrich, einer jungen Krankenschwester auf der Flucht vor den Alliierten, gehörte es zu meiner Tarnung, weder bewaffnet noch winterfest gekleidet zu sein. Ich trug einen einfachen Wollrock, eine Jacke, Mütze und Handschuhe, an den Füßen lediglich Skistiefel und darunter Kniestrümpfe.
Es war stockfinster und eisig kalt. Die mächtigen Tannen und Kiefern schluckten das wenige Licht in jener Winternacht. Nur der Schnee schimmerte hell. In einer langen Reihe stapften wir durch die hohen Schneewehen – vierzehn Männer vor und zehn hinter mir. Während meine Begleiter bis über die Knie einsanken, reichte mir der Schnee sogar bis zu den Hüften. Bei jedem Schritt musste ich mein Bein mit beiden Händen aus dem Schnee ziehen, aber zum Glück verlor ich nie das Gleichgewicht. Mein einziger Trost war, dass mir dabei warm wurde. Ich spürte, dass die Männer mich nicht aus den Augen ließen, um mir zu Hilfe zu eilen, falls ich stürzen sollte. Doch mein Ehrgeiz, mit ihnen mitzuhalten, trieb mich voran.
Fünf Stunden lang marschierten wir in völligem Schweigen, da wir wussten, dass ringsum die Deutschen lauerten. In einer so stillen, froststarren Umgebung tragen Geräusche erstaunlich weit. Seit wir Thann mit seinen windschiefen Häusern hinter uns gelassen hatten, waren wir mindestens fünf Kilometer bergauf, dann bergab in Richtung Amselkopf gegangen. Die verschneiten Gipfel der Vogesen ragten hoch über uns auf.
Am Rand eines kleinen Tals blieb unser Anführer stehen und sah mich ernst an. Hier würde meine Eskorte umkehren. Wir befanden uns in einem Kiefernwald, der so dicht war, dass wir kaum etwas sehen konnten. Keiner sagte ein Wort; wir verständigten uns nur mit Handzeichen. Unser Führer leuchtete mit einer abgeschirmten Taschenlampe auf seine Karte und zeigte mir noch einmal den schmalen Pfad, dem ich am Südhang des Berges folgen sollte. Es gab mehrere parallel verlaufende Wege. Sobald ich den zweiten Pfad erreicht hätte, sollte ich bis Sonnenaufgang warten, dann etwa eine Stunde an der Bergflanke entlanggehen, bis ich am Ende des Passes auf einen schwer bewaffneten feindlichen Posten stoßen würde.
»Die Deutschen schießen auf alles, was sich bewegt«, hatte mich unser Führer am Vorabend gewarnt. »Denken Sie daran, tot nützen Sie niemandem was.«
Stumm winkten mir die Männer zum Abschied und verschwanden zwischen den Bäumen. Leutnant Neu, der inzwischen ein guter Freund war, drückte meinen Arm.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und stapfte weiter durch die Finsternis. Ich durchquerte das Tal und fand den zweiten Pfad, der in Richtung Osten führte. Meinen Anweisungen folgend, kauerte ich mich hinter einen Baum und wartete, bis die ersten Sonnenstrahlen den Himmel erhellten. Dann ging ich weiter. Ich war so angespannt, dass ich weder Müdigkeit noch Hunger noch Kälte spürte.
Nachdem ich ein kurzes Stück den Hang entlanggelaufen war, sah ich unten im Tal zwei deutsche Soldaten, die bäuchlings auf dem Boden lagen und sich mit Tannenzweigen getarnt hatten. Sie hoben die Köpfe, unternahmen aber nichts, um mich aufzuhalten. Ich reckte das Kinn und gab vor, sie nicht gesehen zu haben. Vermutlich waren sie Beobachter und wollten ebenso wenig entdeckt werden wie ich. Ich ging weiter und versuchte nicht daran zu denken, dass sie jederzeit den Abzug drücken konnten.
Ich wusste, dass ich meinem Ziel ganz nah war. Es konnte gar nicht anders sein. In Gedanken trieb ich mich unaufhörlich an.
Nur noch ein kleines Stück, Marthe. Bleib ruhig, lächle, weine, spiel Theater, wenn’s sein muss. Denk an den Oberst, denk daran, wie wichtig die Mission für ihn und seine Männer ist.
Ich erinnerte mich daran, wie er mich am Abend zuvor auf beide Wangen geküsst hatte. Dann hatte er sich rasch abgewandt, damit ich nicht bemerkte, dass ihm die Tränen in die Augen gestiegen waren.
Plötzlich sprang unterhalb von mir ein Soldat hinter einem Baum hervor. Sein Gewehr war direkt auf mich gerichtet, das Bajonett blitzte bedrohlich auf. Obwohl ich mit einem solchen Empfang gerechnet hatte, hätte ich vor Schreck beinah aufgeschrien. Ich holte tief Luft und schluckte. Dann sprangen drei weitere Soldaten hinter den Bäumen hervor, ihre Maschinengewehre im Anschlag, die Helme mit Tannenzweigen getarnt.
Als ich mich vorsichtig im Dämmerlicht umblickte, sah ich, dass ganz in der Nähe tote Soldaten auf dem Boden lagen; ihr Blut sickerte in den Schnee. Offenbar hatte es hier vor Kurzem ein Gemetzel gegeben.
»Nicht schießen!«, rief ich und hob die Hände.
Das Lothringer Kreuz
Ich bin in Metz geboren, einer Stadt in Lothringen, die von einer mächtigen Kathedrale überragt wird, in einer Region im Nordosten Frankreichs, die auf eine komplizierte und wechselvolle Geschichte zurückblickt.