Im Land des Feindes. Marthe Cohn

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Im Land des Feindes - Marthe Cohn

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die Deutschen das Gebiet und hielten es fast fünfzig Jahre besetzt.

      Als ich am 13. April 1920 – keine zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – zur Welt kam, hatte sich die politische Landkarte Europas verändert und Elsaß-Lothringen befand sich erneut in französischer Hand. Da wir in dieser historisch bedeutenden Grenzregion als wahre französische Patrioten aufgewachsen waren, erfüllte es uns alle mit Stolz, als General de Gaulle im Zweiten Weltkrieg das Lothringer Kreuz mit den zwei Querbalken zum Symbol des freien Frankreich erkor.

      Metz war eine geschäftige, weltoffene Stadt mit barocken Giebeldächern und klassizistischen Fassaden. In den Stahlwerken und Kohlegruben des Umlands arbeiteten Polen, Italiener und Tschechen. Da Metz eine Garnisonsstadt war, wimmelte es in den Straßen von Soldaten. Am Ostufer der Mosel gelegen, war die Stadt ein wichtiger Knotenpunkt auf der Handelsroute zwischen Paris und Straßburg. Im 12. Jahrhundert wurde Metz freie Reichsstadt und hatte sich einen ganz eigenen Charakter bewahrt: Davon zeugten das mittelalterliche französische Viertel mit der gotischen Kathedrale Sainte-Étienne im Zentrum und die elegante »Ville Allemande« mit ihren Bürgerhäusern, die unter preußischer Besatzung entstanden war. Aufgrund seiner bunten Vielfalt an Plätzen aus dem 17. Jahrhundert, italienisch anmutender Straßenzüge und deutscher Prachtbauten war Metz keineswegs der triste Ort, den seine geografische Lage und seine industriellen Wurzeln hätten erwarten lassen.

      Meine Eltern waren praktisch als Deutsche aufgewachsen. Da sie den Großteil ihres Lebens in einem besetzten Gebiet verbracht hatten, war es ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen. In der Schule wurde Deutsch gelehrt und jedem, der in der Öffentlichkeit auch nur ein einziges französisches Wort von sich gab, drohte Arrest. Als ich zur Welt kam, waren beide Sprachen erlaubt. Sieben Jahre lang hatte ich in der Schule Deutsch als Zweitsprache. Wir Geschwister unterhielten uns mit unseren Schulfreunden und einigen Nachbarn auf Französisch, aber mit unseren Eltern und den meisten Angehörigen ihrer Generation auf Deutsch. Französisch war für uns eine Art Geheimsprache. Wenn wir nicht wollten, dass unsere Eltern mitbekamen, was wir im Schilde führten, schwatzten wir fröhlich auf Französisch drauflos.

      Unser eigentlicher Familienname war Hoffnung Gutglück, was der Einfachheit halber zu »Hoffnung« abgekürzt wurde. Ich hieß mit Vornamen »Marthe«, französisch ausgesprochen. Mein Großvater mütterlicherseits, Moishé Bleitrach, war ein wunderbarer Mann, ein angesehener orthodoxer Rabbiner und Gelehrter. Zum Zeitpunkt meiner Geburt war er fast sechzig Jahre alt und trug einen langen Bart. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist sein dröhnendes Lachen, wenn ich daran zog.

      Als ich etwa zwei Jahre alt war, hing ich wie eine Klette an meiner Mutter Regine. Sie war eine kleine, blonde, hübsche Frau, die ich geradezu vergötterte. Sie war warmherzig und lebenslustig und wirkte eher wie eine ältere Schwester. Sobald sie sich aus meinem Blickfeld entfernte, bekam ich einen hysterischen Anfall und schrie, bis ich blau im Gesicht wurde. Dann nahm mich einer meiner älteren Brüder, Fred oder Arnold, oder meine Schwester Cécile auf den Arm und schlug mir mit sichtbarem Vergnügen auf den Rücken, bis ich wieder normal atmete. Als ich mit vier Jahren begriff, dass meine Geschwister mir mein Theater übel nahmen, beschloss ich – Pazifistin, die ich schon damals war –, sie und meine arme Mutter endlich in Frieden zu lassen.

      Sechzehn Monate nach meiner Geburt kam meine jüngere Schwester Stéphanie zur Welt, ein entzückendes, pummeliges kleines Ding mit dunkelbraunen Löckchen – das exakte Gegenteil von mir. Ich war klein, mager, blass und hellblond, genau wie meine Mutter. Kein Wunder, dass ich rasend eifersüchtig war.

      »Sie mag ja hübsch sein«, tönte ich gegenüber Stéphanies zahlreichen Verehrern, »aber dafür bin ich sehr intelligent.« Doch meine Eifersucht legte sich bald, denn ich konnte gar nicht anders, als Stéphanie mit ihrem sonnigen Naturell und ihrem Engelsgesicht ins Herz zu schließen. Sie und Cécile waren die umgänglichsten von uns allen. Und so wurde aus dem Püppchen, das ich hätschelte und liebkoste, die Spielgefährtin, Freundin und Vertraute meiner Kindheit.

      1924 kam meine Schwester Hélène zur Welt, ein zerbrechliches kleines Wesen; 1925 folgte das Nesthäkchen Rosy.

      Bald darauf sollte ich eingeschult werden. Aber weil ich für meine sechs Jahre sehr klein war, meinten die Lehrerinnen, dass ich für die erste Klasse nicht reif genug wäre, und steckten mich zu meiner Schwester Stéphanie in die Vorschule. Trotz meiner Proteste setzten sie mich neben sie.

      Während die anderen das Alphabet lernten, schwieg ich verstockt und schmollte. Da ich schon ganze Bücher lesen konnte, war es unter meiner Würde, mich am Unterricht zu beteiligen. Als die Lehrerin fragte, ob jemand von uns ein Lied vortragen wolle, streckte Steph zu meiner Bestürzung den Finger in die Höhe. Unsere ganze Familie – mit Ausnahme von Cécile und meiner Mutter – war völlig unmusikalisch. Deshalb zog ich hastig ihren Arm nach unten und zischte: »Lass das, dumme Gans! Du weißt doch, dass du nicht singen kannst.«

      Aber die Lehrerin hatte sie bereits gesehen und rief sie nach vorn. Während ich mir die Hände vors Gesicht hielt, trällerte sie »Je cherche après Titine«, ein Chanson, das damals sehr populär war. Ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. In der Mittagspause lief ich nach Hause und erzählte meiner Mutter, was passiert war.

      »Ich bleib da auf keinen Fall«, sagte ich und zog einen Flunsch. »Die halten mich für ein Kleinkind. Und dann hat Steph auch noch vorgesungen!« Meine Mutter konnte sich kaum ein Lachen verkneifen. Am Nachmittag brachte sie mich zur Schule zurück und legte der Lehrerin meine Geburtsurkunde vor, um zu beweisen, dass ich alt genug für die erste Klasse war. Von da an blieb ich von Stéphanies Gesangskünsten verschont.

      Ich hasste die Schule und wünschte mir nichts sehnlicher, als mich zu Hause zu verkriechen und zu lesen. Jedes Buch, das uns die Lehrerin als Lektüre empfahl, kannte ich bereits. Ich war frustriert und langweilte mich zu Tode.

      Als ich mir einmal in der Stadtbücherei neue Bücher ausleihen wollte, warf die Bibliothekarin einen Blick auf meine Liste und musterte mich streng über den Rand ihrer runden Brillengläser hinweg. »Tut mir leid, aber du bist noch viel zu jung, um so etwas zu lesen.« Kaum war ich zu Hause, erzählte ich meinem ältesten Bruder Fred davon, der schnurstracks mit mir zur Stadtbücherei ging, um die Bibliothekarin zur Rede zu stellen.

      »Meine Schwester darf lesen, was sie will«, sagte er höflich, aber bestimmt. »Es ist Sache meiner Eltern zu entscheiden, welche Bücher gut für sie sind und welche nicht.« Nachdem er sich so beherzt für mich eingesetzt hatte, liebte ich ihn mehr denn je.

      Als kleines Mädchen fühlte ich mich Fred besonders nah. Er war eher wie ein Vater als ein Bruder für mich. Jeden Abend las er uns nach dem Essen aus der Zeitung vor, ein tägliches Ritual, dem ich voller Ungeduld entgegensah. Ich saß auf dem Boden, an die Beine meiner Mutter gelehnt, und lauschte gebannt den neuesten Nachrichten über die politischen Entwicklungen in Europa.

      Besonders fesselte mich das Schicksal des jüdischen Uhrmachers, Dichters und Anarchisten Samuel Schwartzbard, der nach den antijüdischen Pogromen von 1919 und 1920 aus der rumänischen Provinz Bessarabien, dem heutigen Moldawien, nach Paris geflohen war, wo er Arbeit in einer Uhrenfabrik fand. In Paris machte er den ehemaligen General und Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Symon Petljura, ausfindig, der mittlerweile Chef der ukrainischen Exilregierung in Paris war. Seine Truppen hatten an der jüdischen Bevölkerung in seiner Heimat schreckliche Gräueltaten verübt.

      Am Morgen des 25. Mai 1926 lauerte Schwartzbard Petljura vor seinem Haus auf und gab mehrere tödliche Schüsse auf ihn ab. Es kam zu einem aufsehenerregenden Mordprozess, der für internationale Schlagzeilen sorgte. Dank Schwartzbards Verteidiger Henry Torrès ging es in diesem Verfahren jedoch weniger um die Ermordung Petljuras als um den Tod von 60.000 Juden, für die Torrès Petljura verantwortlich machte. Zahlreiche Zeugen berichteten von den grauenvollen Verbrechen, die Petljuras Kosaken begangen hatten. Sie hatten ganze Dörfer niedergebrannt

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