Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Licht der Frauen - Żanna Słoniowska страница
Das Licht der Frauen
Roman
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Kampa
– Sie mutmaßen, erwiderte Stephen mit einer Art halbem Lachen, dass ich möglicherweise darum wichtig bin, weil ich zum faubourg Saint Patrice gehöre, kurz Irland genannt.
– Ich würde noch einen Schritt weiter gehen, deutete Mr. Bloom an.
– Aber ich mutmaße, unterbrach Stephen, daß Irland darum wichtig sein muß, weil es zu mir gehört.
Das Wort »Mama« ist für mich kein Bild, sondern ein Laut. Es beginnt im Bauch, zieht durch Lunge und Kehlkopf in die Luftröhre und bleibt im Rachen stecken. Du bist musikalisch völlig unbegabt, pflegte sie zu sagen, deshalb singe ich nie. Gleichwohl ist die Stimme, die in meinen Eingeweiden entsteht, ihre Stimme, ein Mezzosopran. Solange ich in ihrem Bauch saß, habe ich gedacht, diese Stimme gehöre zu mir, aber als ich geboren war, zeigte sich, es ist ausschließlich ihre. Diese unsere musikalische Verschiedenheit währte elf Jahre lang, bis zu ihrem Tod. Lange Zeit danach war nichts, kein Laut, keine Farbe, nur ein Loch neben dem Schulterblatt. Und als ich erwachsen war, stellte ich fest, dass jetzt sie es ist, die in meinem Bauch sitzt. Jetzt ist sie es, die nichts sehen kann. Wieder ist sie nur eine Stimme, ein schöner Mezzosopran. Und ich stelle mich vergeblich vor den Spiegel, öffne den Mund und versuche, sie aus mir herauszubekommen.
Der Tod
Am Tag ihres Todes erklang ihre Stimme und übertönte viele andere lärmige Laute. Der Tod aber, ihr Tod, war kein Laut, sondern eine Farbe. Sie trugen ihren Körper in einer großen blau-gelben Flagge nach Hause – der Flagge eines Staates, den es noch auf keiner Karte der Welt gab. Sie war straff darin eingewickelt wie eine ägyptische Mumie, an einer Stelle war ein dunkler blutiger Fleck nach außen gedrungen. Als ich da stand und auf diesen Fleck starrte, dachte ich, hier müsse ein Irrtum vorliegen. In der Schule wurde uns erklärt, alle Flaggen wären rot, weil sie in Heldenblut getränkt wären. Sie erzählten uns die Geschichte von dem Arbeiter, der erschossen wurde, als er auf die Straße ging, um mit einer weißen Flagge für seine Rechte zu kämpfen. Als die Schüsse der Gendarmen fielen, färbte sein Blut die Flagge rot. Aber seitdem ist alles anders geworden, inzwischen wusste ich, dass die rote Farbe öfter für Terror als für Befreiung stand. Und dennoch, als ich neben Mamas Leichnam stand, musste ich daran denken, dass Rot besser gepasst hätte. Die rote Flagge war erhaben und tragisch, die blau-gelbe lässig und kitschig. Sie hatte etwas von einem heißen Sommertag, von Ferien auf dem Land. Das Blau sei der Himmel, das Gelb die Getreideähren, sagte Mama. In manchen Augenblicken des Lebens kommt man auf seltsame, manchmal sehr unpassende Gedanken. Hätte Mama erfahren, was ich damals dachte, sie wäre empört gewesen. Kurz darauf, als die Männer, die sie ins Haus trugen, die Flagge abwickelten, um uns die offene Wunde am Schulterblatt zu zeigen, hörte ich auf, mich auf die Farben zu konzentrieren, und begann, an ihre Haut zu denken.
Mama zog sich oft vor dem großen Spiegel aus, ohne sich vor mir zu genieren, und stand nackt da, betrachtete sich und sang bisweilen währenddessen. Ich setzte mich neben sie und streichelte mit meinem Blick ihre weiße, sommersprossige Haut, ihre kleinen, festen Brüste, ihre langen Beine mit den feinen roten Härchen. Sie war meine persönliche Schneekönigin und zugleich all die nackten Venus und bekleideten Madonnen aus den Kunstbänden im Bücherregal. Ihr Leib sprach davon, dass er Geist war, und er wäre vollkommen gewesen, wenn es nicht einen bestimmten Makel gegeben hätte. Auf ihrem Rücken, neben ihrem linken Schulterblatt, verbarg sich eine satinweiße Vertiefung von der Größe eines Ahornblatts – die einzige Stelle ihrer Haut, die nicht von Sommersprossen übersäht war, und sie sah aus wie ein nachlässig angenähter Flicken. Ich verstand, dass das ein Makel war, aber ich liebte ihn von allem am meisten. Oft fragte ich Mama, woher er komme. Die Spur eines feindlichen Geschosses, erwiderte sie dann lächelnd. Als ich klein war, nahm ich diese Antwort sehr ernst und stellte mir vor, wie die Feinde unseres Systems sie eines dunklen Abends verfolgen, Hunde auf sie hetzen, wie sie sich in einer Telefonzelle versteckt, wie die Kugel das Glas in tausend scharfe, glitzernde Splitter zertrümmert, unter deren Hagel ihr Körper wehrlos zu Boden sinken muss. Die Wahrheit aber war eine andere: Als Mama ein Mädchen war, wuchs ihr auf dem Rücken eine Kette von Leberflecken – etwa so wie das Mal, das Gorbatschow auf der Stirn trug –, und die Ärzte beschlossen, sie herauszuschneiden. Auf diese Weise entstand die seidig-helle Delle.
Als nun ihr Leichnam, in eine ukrainische Flagge gewickelt, zu uns nach Hause getragen und vor unseren Augen enthüllt wurde, galt mein zweiter Gedanke genau dieser Stelle ihrer Haut. Ein echtes Geschoss war in ihr rechtes, sommersprossiges Schulterblatt eingedrungen, und ich verstand nicht, dass es auf diese Weise für eine Art Symmetrie gesorgt hatte: die seidige Delle links, das klaffende Loch rechts. Dieser Gedanke war – so wie der mit der Flagge – der Situation ganz sicher nicht angemessen. Ich stand also reglos und angespannt im Zimmer, wo trotz des grellen Sonnenlichts alle Lampen eingeschaltet waren, und versuchte alle unangemessenen Gedanken zu verdrängen. Das führte dazu, dass ein absolut leerer weißer Bereich in meinem Kopf entstand – ähnlich jener sommersprossenlosen Vertiefung in ihrer Haut, ich wusste nur nicht, ob in meiner rechten oder linken Gehirnhälfte. Es war Juli 1988, meine Mutter war im ungleichen Kampf gegen den sowjetischen Totalitarismus gefallen.
Am Tag ihrer Beerdigung fühlte es sich so an, als ob die Klänge des Militärorchesters die verschnörkelten Fassaden der Häuser in unserer Straße wegblasen würden. Die ersten Noten öffneten viele Fenster, in denen Gesichter von Menschen erschienen, die ein Erdbeben oder Schlimmeres erwarteten.
»Feiertag, das sind für mich die Klänge eines Blasorchesters«, pflegte Mama zu sagen, wenn wir uns am ersten Mai oder am siebten November durch das Spalier der Milizionäre im Zentrum zu unserem Platz auf der Tribüne kämpften. Die Paraden waren damals die einzigen Massenveranstaltungen, die mir keine panische Angst einjagten. Da gab es Ballons, Fähnchen, vor allem aber eine unangreifbare, von vornherein festgelegte Ordnung. Bei der Menschenmenge von heute war das anders. Wenn eine Sintflut käme, wie in der Bibel, sähe es ähnlich aus. Auch da gäbe es keine Fluchtmöglichkeit. Ich stand am geschlossenen Fenster im ersten Stock, und die Flut an Menschen stieg immer höher. Obendrauf trieb der offene Sarg mit Mama.
Gegenüber unserem Wohnhaus befand sich eine Milizdienststelle, und einige Uniformierte drängten sich auf dem runden Balkon genau auf der Höhe meines Fensters. Was wäre, wenn einer von ihnen jetzt seine Waffe zöge und auf mich schösse, fragte ich mich. Müßige Phantasien! Ohne zu zögern wäre ich statt Mama gestorben, aber ich wusste nur zu gut, dass sie am Tag der Abrechnung Dutzende wie mich gegen eine wie sie gegeben hätten. Sie war groß. Sie wollte sterben. Und es war ihr gelungen.
Der Strom unbekannter Köpfe zog vorbei, seufzte, raunte. Jede seiner Bewegungen war an die in mir aufsteigende Angst gekoppelt. Er hatte die Macht, mich zu verschlingen. In der Menge waren schwanger aussehende Frauen mittleren Alters, eingehüllt in wadenlange Mäntel und graue Kopftücher. Ich wusste, was sie unter ihrer Kleidung verbargen. Dort waren auch schwarz gekleidete Männer mit angelähnlichen Stöcken unter den Armen. Ich konnte mir denken, was das bedeutete. Und zugleich hatte ich keine Ahnung, wer diese Leute waren und was sie mit Mama zu tun haben konnten. Mit ihrem Mezzosopran und der Plattensammlung aller Opern der Welt, mit ihrer hellen Haut und der Angewohnheit, beim Essen zu lesen, mit ihren sehr langen, mandelförmigen Fingernägeln. Sie hatte diese Leute nie nach Hause eingeladen, und sie waren nie auf ihren Konzerten gewesen. Sie hatten sich nie auf der Straße gegrüßt und auch nie gemeinsam Kaffee in der »Armenierin« getrunken. Sie hatten nicht mit ihr zusammengearbeitet und hatten ihr keines der Manuskripte gebracht, die in einer Nacht durchzulesen waren. Und jetzt waren sie hier und klagten, als wären sie ein Ast gewesen, der von ihrem Baum abgeschnitten worden ist! Gestern hatte eine unbekannte Frau an unserer Tür geklingelt und gefragt, wann das letzte Geleit für »unsere Marianna« beginne.
Waren sie schuld an ihrem Tod?
Ich