Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska

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Das Licht der Frauen - Żanna Słoniowska

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Russischen zum Ukrainischen wechselte, wurde die Zeremonie des Abschließens um ein neues Element erweitert. Nach der Beendigung des gewöhnlichen Rituals lehnte Urgroßmutter einen Weidenkorb mit schmutziger Wäsche an die Tür, und vom nächsten Tag an tat sie das immer. Damals begann sie auch, immer häufiger von den Banderowzen zu sprechen, womit sie alle ukrainischen Freiheitskämpfer über einen Kamm scherte. Wenn wir allein waren, erzählte sie mir, dass der Waggon, in dem sie im Jahre 1944 nach Lemberg kam, von ihnen beschossen wurde und sie große Angst vor ihnen hatte – fast so große wie vor den Deutschen. Jetzt ging es ihr ähnlich: Wieder wollten sie in ihren Waggon, und wenn sie den Kopf aus dem Fenster steckte, sah sie, dass an ihrer Spitze niemand anders als ihre Enkelin stand – meine Mama. Das Mädchen, mit dem sie seit vielen Jahren kein Wort gesprochen hatte. Das Mädchen, das gegen ihren Willen Sängerin geworden war und sich ihren Vorstellungen vom Leben widersetzte, indem sie für eine unabhängige Ukraine kämpfte. Der Wäschekorb wurde ein weiteres Bollwerk der Barrikade, die sie seit Jahren zwischen sich errichteten.

      Damals war es auch, dass Urgroßmutter sich angewöhnte, mich verbal einzuschüchtern. Sie fing mich im Flur ab und stellte sich mir in den Weg.

      »Sprich niemals laut Russisch!«, belehrte sie mich. »Eh du dich versiehst, ziehen sie dich in einen leeren Hauseingang und massakrieren dich!«

      Beim nächsten Mal fragte sie, ob ich Schewtschenkos Gedicht Zapowit auswendig könne.

      »Sie fangen Frauen und Kinder, verschleppen sie an einen geheimen Ort und befehlen ihnen, es aufzusagen. Machst du nur einen Fehler, vergewaltigen und foltern sie dich.«

      Ich hatte keine Angst: Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir jemand auf der Straße Vorhaltungen wegen meiner Literaturkenntnisse machen würde, und ich glaubte nicht, dass Poesie und Gewalt etwas gemein haben könnten.

      Am Abend des Tages, an dem Mamas Leiche in eine blau-gelbe Flagge gewickelt in unser Haus getragen wurde, vernachlässigte Urgroßmutter das Ritual der Sicherung der Wohnungstüren, sie wurden nicht einmal ordentlich geschlossen. Das war ein Zeichen ihrer Kapitulation: So sehr Urgroßmutter sich auch bemüht hatte, sie waren dennoch gekommen und hatten ihre Welt zerstört. Mama wurde im mittleren Zimmer auf den Tisch gelegt, an den Seiten wurden lange Kerzen angezündet. Das geschmolzene Wachs hinterließ helle Spuren auf dem Eichenparkett. Viel später erfuhr ich, dass Aba mehrere Entscheidungsträger bestechen musste, damit von einer Obduktion abgesehen und die Leiche nicht im Totenhaus zurückgehalten wurde. Es gelang ihr dank ihrer Beziehungen in medizinische Kreise, sie war eine gefragte Ärztin gewesen.

      Dass der KGB nicht intervenierte, überraschte sie dennoch. Man hätte meinen können, jetzt würden sie dafür sorgen, den Tod, an dem sie schuld waren, zu leugnen, zu vertuschen, zu verwischen. Dieser Schuss war in jeder Hinsicht absurd gewesen: Nicht nur, dass er sein Ziel verfehlt hatte, er erklang für Lemberg auch wie ein Glockengeläut, das den Rest der Unentschlossenen auf die Straßen rief. Mama hätte sich nichts anderes gewünscht (anders Aba, ich oder Urgroßmutter). In den ersten Tagen nach dem Schuss sprachen alle von den Umständen ihres Todes: von der illegalen Demonstration auf der Klumba, dem Lemberger Hyde Park, bei der freie Wahlen gefordert wurden; von dem Scharfschützen auf dem Dach des nahegelegenen Wohnhauses, in dem sich vor dem Krieg das prachtvolle »Wiener Café« befunden hatte. Der Scharfschütze, so hieß es, sollte den Befehl bekommen haben, auf Tschornowil zu schießen, aber Marianna bewegte sich so energisch auf der Ladefläche des Lastwagens, dass sie den Dissidenten verdeckte. Man hatte eine Luftdruckwaffe benutzt, deshalb hörte niemand den Schuss. Erst beim Anblick des blutigen Flecks, der auf dem beigen Kleid der Sängerin erblühte, suchte ein Teil der Leute das Weite. Wjatscheslaw Maksimowitsch setzte die Versammlung fort. Er hatte den Tod akzeptiert. Nicht im Sinne einer inneren Gleichgültigkeit, aber er hatte in den Jahren im Lager einen unerschütterlichen Mut entwickelt. Ehemalige Mithäftlinge sprachen sogar von einem »pathologischen« Mut. In der Menge meldete sich ein Arzt. Tschornowil gab Marianna in seine Obhut und setzte die Versammlung fort. Man versuchte, ihn abzuschirmen, wollte ihn sogar mit Gewalt vom Lastwagen ziehen. Aber es fielen keine weiteren Schüsse – bis heute weiß niemand, warum. Jedenfalls bekam Tschornowil an jenem Tag von meiner Mama zusätzliche elf Lebensjahre geschenkt. Ich denke, er wird im Jahr 1999, als sein Auto auf der Strecke nach Borispol von einem Lkw erfasst wurde, daran gedacht haben.

      Andere erinnerten sich auch, aber nicht lange. In den ersten Tagen redeten die Leute und schrien, sie riefen an und kamen zu uns. Das verschlimmerte die Situation für mich derart, dass ich in hilfloser Wut versteinerte. Auch nach vielen Jahren geriet ich erneut in diesen Zustand, wenn ich flüssiges Wachs auf den Boden tropfen sah. Entgegen der Tradition, die eine Bestattung drei Tage nach dem Tod vorsah, sollte die Beerdigung schon am nächsten Tag stattfinden. Und niemand – o Wunder – widersetzte sich, als Aba sich um einen Platz auf dem Lytschakiwski-Friedhof bemühte, der wichtigsten Begräbnisstätte Lembergs. Zwar waren Beerdigungen dort in den achtziger Jahren noch nicht verboten, aber schon damals benötigte man viele Sondergenehmigungen, die Aba blitzschnell beschaffte. Gewiss, die Demonstration, zu der sich die Beerdigung auswuchs, wurde brutal zerschlagen, gewiss, jemand von ihnen kam zum Direktor der Oper und bedrängte ihn mit Fragen über Marianna, gewiss, in den folgenden Monaten beseitigte immer wieder jemand die dicke Schicht Kunstblumen, die das Grab jeden Tag aufs Neue bedeckte. Aber über letzteres habe ich mich sogar gefreut. Die Plastiknarzissen gefielen mir nicht und schienen mich noch weiter von Mama zu entfernen. Später ließen sie auch das, und die Blumen blieben dauerhaft auf der Steinplatte liegen. Der Herbst breitete seine Laubdecke über sie.

      Vom ersten Tag an wartete Aba auf die Vorladung, du weißt schon wohin. Sie sagte mir später, diesen Besuch habe sie sich Tausende Male ausgemalt. Der Gedanke begleitete sie seit ihrer frühen Kindheit: Als sie sieben war und in Leningrad wohnte, ermordeten sie ihren Vater; als sie fast sechzig war und in Lemberg wohnte, töteten sie ihre Tochter. Zwischen dem einen und dem anderen Ereignis hatte sie nie aufgehört, sie zu hassen und das auch mehr oder weniger offen zum Ausdruck zu bringen. Als sie im Jahre 1944 nach Lemberg kam, beschloss sie, eine Ein-Frau-Widerstandsbewegung zu werden. Sie fertigte Flugblätter an und verteilte sie persönlich in die Briefkästen. Darin hieß es, Stalin sei ein Verbrecher. Bis heute begreife ich nicht, warum sie nie dafür belangt wurde. Ich habe keine andere Erklärung als die besondere Fürsorge eines Schutzengels. Das graue Gebäude in der Dzierżyńskistraße besuchte sie nur ein einziges Mal, kurz nach Stalins Tod: Sie bombardierte sie mit offiziellen Anfragen nach dem Schicksal ihres Vaters. Doch auf dem Weg dorthin entfernte sie den Hass aus ihrem Gesicht und grundierte es neu, wie eine Leinwand. Sie malte einen neuen Ausdruck darauf – alles nur, um ihnen irgendeine Information zu entlocken. Dort empfing sie ein zynisch lächelnder Major. Er hielt die Akte ihres Vaters in der Hand – trotz ihrer Bitten ließ er sie nicht darin lesen. Geheimnisvoll erklärte er, ihr Vater sei »irgendwo im Norden« gestorben. Von jetzt an, so fügte er hinzu, sei sie nicht mehr als Tochter eines »Volksfeindes« gebrandmarkt – die Opfer des Stalinterrors wurden rehabilitiert. Nach wie vor kannte sie weder das Datum noch den Ort, an dem ihr Vater gestorben ist. Sie legten großen Wert darauf, dass die Menschen über Jahre im Schatten ihrer gleichsam halbtoten Angehörigen lebten.

      Ganz anders war es bei Mama: Ihr Tod wurde in eine Leere gesogen, er versank in der Kluft zwischen den Epochen. Dieses Mal wurde Aba nirgendwo vorgeladen – sie hatten plötzlich andere Sorgen.

      Nach jenem Schuss begann eine neue Zeitrechnung. Das ist schwer zu beschreiben, denn sie galoppierte wie wild und stand dennoch auf der Stelle, verschwand womöglich ganz. Im Rijksmuseum in Amsterdam gibt es eine seltsame Uhr: Hinter dem matten Glas des Zifferblatts kommt ein Menschlein hervor, das den Minutenzeiger wegwischt und ihn an einer neuen Stelle aufmalt, dann verschwindet und nach einer Minute erneut erscheint, um das Ritual zu wiederholen. Ich frage mich, wie diese Amsterdamer Uhr in den Tagen, die ich hier beschreibe, ausgesehen haben könnte, und ich glaube, das Menschlein konnte die neuen Zeiger zeichnen, ohne die alten wegzuwischen. Und sobald das Zifferblatt einer Sonne mit sechzig Strahlen ähnelte, hat es von seiner

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