Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska
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Nach der Vorstellung drehte Mama sich in der Garderobe auf ihrem Stuhl um, wusch die Schminke ab und setzte mir das Diadem der Aida oder die Perücke der Carmen auf. Auch jenseits der Bühne hatte sie eine volle Stimme. Ihr kurzes, helles lockiges Haar schien sie nach oben zu ziehen, statt nach unten zu fallen, sodass ich dachte, sie besitze die Gabe, über der Erde zu schweben. Wenn ich sie nicht sehe, stellte ich mir vor, wohnt sie bestimmt in einem Palast aus Wolken und Eis, so wie die Schneekönigin.
»Habe ich heute gut gesungen?«, fragte sie.
Statt zu antworten gab ich mich jünger, als ich war: Ich senkte den Blick, knabberte an meiner Bluse. Dann ließ sie angewidert von mir ab und fragte Aba.
»Großartig, Marianna«, bekam sie zur Antwort. »Ausgezeichnet. Wunderbar.«
Ich hätte auch gern aufrecht dastehen und würdevoll sagen mögen:
»Großartig. Ausgezeichnet. Wunderbar.«
Doch das war unmöglich. Schon vor längerer Zeit war entdeckt worden, dass ich kein Gehör für Musik hatte – absolut gar keins, ohne Aussicht auf Besserung. Aus diesem Grund wurde das Klavier in Urgroßmutters Zimmer getragen, wo ich keinen Zutritt hatte. Ich musste mit meinem Geklimper in den Untergrund gehen, wie die Peltew. Ich war der Oper nicht würdig, der Premieren nicht und Mama nicht. Ich wollte nach Hause.
Die Topografie unserer Wohnung stand ein für alle Mal fest: So wie Meere, Berge und Wüsten ihre Position auf der Landkarte nicht verändern, so war bei uns die Verteilung der Möbel, Geräte und Einrichtungsgegenstände unveränderlich. Diese Beständigkeit der Dinge war vermutlich die Antwort auf die Instabilität der menschlichen Schicksale. Der Mann meiner Urgroßmutter, mein Urgroßvater, wurde 1937 in Leningrad bei der »polnischen Säuberung« verhaftet und ist danach spurlos verschwunden. Der Mann meiner Großmutter, also mein Großvater, hat als Offizier der Roten Armee den Krieg überlebt und ist bis nach Berlin gekommen, um dann Mitte der sechziger Jahre an etwas zu sterben, was wir heute als chronische Depression und Leberzirrhose bezeichnen würden. Was meinen Vater betrifft, so hatte ich Zweifel, ob es ihn überhaupt gegeben hatte.
Ich war die Frucht einer kurzen, poetischen Romanze im Sommer 1977. Am 1. Juni lernten meine Eltern – Mama war im letzten Jahr ihres Gesangsstudiums, mein Vater war ein junger Architekt aus Moskau – sich auf einer Party kennen und trugen sich anschließend den ganzen Monat, Nacht für Nacht, russische Gedichte aus dem Silbernen Zeitalter vor, die sie auswendig kannten. Mama kannte sich am besten mit Zwetajewa aus, mein Vater zog Blok entschieden vor. Die Legende besagt, dass sie keine Nacht ausließen. Ich weiß nicht, ob sie tagsüber neue Gedichte auswendig lernen mussten oder ob ihr bisheriger poetischer Vorrat ausreichend groß war. Man muss schon eine Menge Gedichte auswendig können, damit es für dreißig Nächte reicht. Ich weiß nicht, ob Zwetajewa und Blok überhaupt so viele geschrieben haben. In dem Sommer damals machten Aba und Urgroßmutter Urlaub am Schwarzen Meer, sodass der poetische Marathon, dem ich mein Leben verdanke, in unserer Wohnung stattfinden konnte.
Das letzte Mal haben meine Eltern sich am 30. Juni auf einem Bahnsteig am Hauptbahnhof getroffen. Der Zug von Lemberg nach Moskau bebte von den Schlägen des Bahnmitarbeiters, der den Zustand der Waggons überprüfte, die befruchtete Eizelle vibrierte in meiner Mutter, mein Vater zitterte. Ihre Abschiedsworte waren von Majakowski:
»Hört mal! Wenn die Sterne entzündet werden – heißt das, jemand braucht sie des Nachts?«, fragte Mama.
»Es heißt: Für jemanden glitzert diese Spucke gleich Perlen«, rief mein Vater zurück, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Danach haben sie sich nie wieder gesehen.
Bemerkbar habe ich mich das erste Mal gemacht, als Mama einen Tag vor ihrem Examen ihre weiße Nylonbluse bügelte und sich die Welt vor ihren Augen drehte. Die gemeine Toxikose hielt man anfangs irrtümlicherweise für eine gewöhnliche Lebensmittelvergiftung und glaubte später noch lange, es handele sich um ein Symptom einer anderen chronischen Krankheit.
Es wäre kein Problem gewesen, mich abzutreiben, doch Mama schaltete auf stur. Alle Argumente von einem verfehlten Start ins Leben blieben ungehört. Sie sagte auch meinem Vater nichts. Wie sie später erklärte, wollte sie in ihrer beider Poesie keine Prosa. Und alle Entscheidungen, die meine Mutter je getroffen hatte, waren unverrückbar wie ein Fels.
Als dann der Schnee taute und die alten Frauen auf die Straßen gingen, um die Krokusse zu verkaufen, über die sie schützend ihre Hände hielten, wurde ich nach Hause gebracht. Der Überlieferung nach war es der erste richtige Frühlingstag, eine Sintflut von Wärme und Licht. Als wäre die Sonne zur Überprüfung in die Wohnung eingefallen, um jeden auch noch so unscheinbaren Fleck auf den Fensterscheiben zu durchleuchten. Aber zu meiner Ankunft waren die Fenster perfekt geputzt. Im Gegensatz zu der Glasmalerei in unserem Treppenhaus – sie musste viele Jahre warten, bis jemand mit einem Lappen kam und sie gründlich säuberte.
Erst viel später erfuhr ich, dass nicht in jedem Wohnhaus eine Glasmalerei verborgen ist, und wenn eine da ist, dann eine viel kleinere. Unsere nahm das ganze Treppenhaus ein. Wie ein Vorhang trennte sie das Innere des Hauses vom Hof, zog sich durch alle Stockwerke von oben nach unten – oder umgekehrt. Wir wohnten im ersten Stock und brauchten nur die Tür zu öffnen, um ihren Mittelteil zu sehen: Reste einer feurig-braunen Unterwelt, aus der ein langer, einsamer Baumstamm herauswuchs, der einen türkisblauen See in der Mitte durchschnitt. Die Nachbarn über uns sahen das gegenüberliegende Ufer, an dem grüne Berge mit blauen Tannen aufragten. Wenn jemand auf den Dachboden stieg, sah er sie in das Weiß und Lila der Wolken übergehen. Die Nachbarin von unten, die verrückte Luba, sah gar nichts – der unterste Teil der Glasmalerei war vor langer Zeit verlorengegangen. An seine Stelle hatte man durchsichtige Scheiben eingesetzt, die die Enge unseres Innenhofs bloßlegten. Aus dieser Perspektive sahen die Hausmeisterin und ihre zahlreichen Kinder das Mosaik. Jeden Morgen zeigte sich eines von ihnen mit einem großen zu entleerenden Eimer am Abwassergitter und hob den Blick zur Unterseite des Mosaiks. Es war grau und ausgebaucht.
»Sie haben keinen Komfort zu Hause«, sagte Aba in einem Ton, der mehr verurteilend als mitfühlend war.
Glasmalerei I
Aus meiner Kindheit hatte ich keine Erinnerungen an Mikolaj, deshalb bezeichnet der Tag, an dem die Glasmalerei geputzt wurde, für mich unsere erste Begegnung. Es war an einem Herbsttag Ende der neunziger Jahre. Vorboten waren ungebetene Gäste in unserem Treppenhaus.
Sie kamen nachts, das neue Ziffernschloss an der Haustür hielt sie nicht ab. Offenbar kannten sie die Zahlenkombination. Sie tranken eine farblose Flüssigkeit aus Plastikflaschen, die sie auf der Treppe liegen ließen, und warfen bis zum Filter aufgerauchte Zigaretten weg. Manchmal konnte man hören, wie sie Lieder von Nirvana auf der Gitarre spielten. Sie pinkelten im Hof in die Ecken. Sie suchten das Weite, wenn Luba mit der Scheuerbürste einschritt. Immer mal wieder ging Luba zur Dienststelle auf der