Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska
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An jenem Abend gestand Mikolaj sich zum ersten Mal ein, dass Mariannas Stimme eine besondere Wirkung auf ihn hatte. Sie schien in seinem Innern eine Tür zu öffnen, deren Existenz er lange schon vergessen hatte. Sie führte in die Karpaten, nach Hrebenne, in das Heimatdorf seiner Mutter. Ein Hirte in Gummistiefeln, Milch direkt von der Kuh und vor allem die Schaukel, zu groß für den Knirps, der er damals war. Wenn er sie ganz hoch schwingen ließ, bis über die Berge, verschwanden Zeit und Gedanken. Stattdessen wurde das Bewusstsein freigesetzt, dass er existierte – die reine ontologische Essenz, die er weder jetzt noch damals benennen konnte. Als Erwachsener fühlte er es wieder, sobald er Mariannas Mezzosopran hörte. Und als die ersten Töne der Aida erklangen, sah er vor seinem inneren Auge die ersehnte, ferne Wirklichkeit, während die organischen Augen aus der Perspektive des Fachmanns die Tatsachen zur Kenntnis nahmen: die Unzulänglichkeit des altmodischen Bühnenbildes, die anachronistischen Kostüme und besonders die Hässlichkeit von Amneris’ Kleid. Er wusste, dass die kommunistische Partei für diesen schmutzig grünen Ton verantwortlich war.
Sobald die Solisten verstummten und der Chor auftrat, stellte Mikolaj sich einen Fluss voller Fische vor. Groß und klein, bewegten sie sich mit wechselnder Geschwindigkeit in unterschiedlichen Tiefen. Die an der Oberfläche wurden von der Sonne beleuchtet, das waren die Soprane. Darunter wanden sich größere und dunklere, wie Schleifen – die Altstimmen. Den Grund des Gewässers bedeckten schwere, langsame Fische mit langen Barthaaren, die sich kaum vom sandigen Schlamm abhoben – die Bässe. Die Tenöre waren nicht wahrnehmbar. Während er auf Amneris’ nächsten Auftritt wartete, rief sich Mikolaj den Inhalt seiner Tasche in Erinnerung. Dort war eine Flasche trockener Tokajer versteckt, die er vor der Vorstellung geschenkt bekommen hatte.
Gegen Ende des zweiten Aktes, als der Pharao Radamès die Hand seiner Tochter versprach und Amneris den Augenblick des Triumphes auskostete, geschah etwas Unerwartetes. Der Kopf direkt vor Mikolaj, den er vorher nicht beachtet hatte, weil er nicht über die anderen hinausragte, schwankte erst nach rechts, dann nach links und sank dann nach unten. Die Frauen, die neben ihm saßen, beugten sich über den Mann. Die eine kreischte:
»Einen Arzt!«
Mikolaj stürzte zu Nilowna, die das Licht im Saal anmachte. Mariannas Stimme zitterte, gab zwei falsche Töne von sich und verstummte. Das Orchester spielte einen Augenblick weiter, als wäre nichts gewesen, dann erstarb es auch. Im Publikum meldete sich ein Arzt. Nach einer kurzen Untersuchung bat er Mikolaj, ihm zu helfen, den Mann auf den Flur zu tragen. Siemiradzkis Vorhang rauschte zur Hälfte nach unten. Ein Raunen ging durch den Saal:
»Aortenaneurysma geplatzt.«
Im schwach erleuchteten Foyer fand Mikolaj ein Telefon, wählte die Notrufnummer 03 und rief einen Rettungswagen. Der langsam erstarrende Körper im schlecht sitzenden Anzug lag neben der Paradetreppe, Nilowna wachte über ihn und verscheuchte die Gaffer. Mikolaj konnte den Blick nicht von der Hornbrille wenden, die an einer Seite mit einer Kette befestigt war. Sie hing quer über dem Gesicht mit den geschlossenen Augen. Es war klar, dass der Besitzer sie nie wieder brauchen würde.
Der Arzt und er gingen nach draußen, keiner von ihnen zog einen Mantel an, beide griffen nach Zigaretten und Streichhölzern. Es nieselte, unter den Kastanien zitterten die Lichter der eleganten Laternen. Es war keine Menschenseele unterwegs.
»Sollte man ihn nicht zudecken?«
Der Arzt, ein schlanker Mann mit grauem Schnurrbart, winkte ab.
»So schnell würde ich auch gern sterben – eins, zwei, drei, vorbei!«, gestand er seufzend.
»Er war noch nicht alt«, stellte Mikolaj fest.
»Sechsundfünfzig«, erwiderte der Arzt und zeigte den Ausweis des Verstorbenen. »Zum Glück hatte er ihn bei sich.«
Achtundzwanzig plus achtundzwanzig sind sechsundfünfzig – ich bin genau in der Mitte des Lebens, dachte Mikolaj und blätterte in Andrej Andrejewitsch Fjetisows Pass. Diese überraschende Rechnung ließ ihn bis zum Ende jenes langen und ereignisreichen Abends nicht los.
Die Vorstellung wurde fortgesetzt. Mikolaj und der Arzt hatten viel Zeit, um sich auszutauschen, und froren bis auf die Knochen, aber ein Rettungswagen war immer noch nicht da. Er tauchte erst auf, kurz bevor die Zuschauer auf den Platz vor dem Theater strömten. Sie lachten und schwatzten, rauchten und spuckten wie immer – nichts deutete darauf hin, dass noch jemand über den Vorfall nachdachte. Ganz offensichtlich war Fjetisow allein in die Aida gegangen.
Nachdem Mikolaj seine Pflicht erfüllt hatte, ging er ins Theater zurück. Er wechselte ein paar Worte mit Nilowna, warf einen Blick auf die leere Stelle neben der Paradetreppe und ging nach unten in die Maske. Schon im Flur wusste er, an welcher Tür er klopfen musste. Ihre Stimme hallte wider und wies ihm den Weg.
»Ich war unheimlich erschrocken! Ich habe mich versungen!«, sagte sie verzweifelt. Sie saß vor dem dreiteiligen Spiegel, das auf den Kosmetiktuben liegende, aufgeknöpfte schmutzig grüne Kleid erinnerte an den geöffneten Bauch einer ausgenommenen Forelle. Die Maskenbildnerin half Marianna, ihr Haar in Ordnung zu bringen. Vor nicht allzu langer Zeit war dieses Kleid Gesprächsthema Nummer eins im Theater gewesen: Die neue Aida-Inszenierung musste, wie jede sowjetische Aufführung, vor der Premiere von einer Kommission abgenommen werden, die aus einem breiten Kreis von Frauen aus der Partei bestand, die nach versteckten regimefeindlichen Anspielungen oder sonstigen Äußerungen politischer Unkorrektheit fahndeten. Diesmal hatten sie etwas an Amneris’ Kleid auszusetzen. Der Regisseur hatte vorgesehen, dass es blau wie das Mittelmeer und golden wie der Schmuck der alten Ägypterinnen sein sollte. Verdächtige Farbkombination! Das musste jedem klar sein: An einem Ort wie diesem durfte nicht einmal die Tochter des Pharao so auftreten.
»Entschuldigung«, sagte Mikolaj. Er stand in der offenen Tür. Bislang hatte er nur einmal persönlich mit Marianna gesprochen: Der Beleuchter hatte sie am Buffet miteinander bekannt gemacht. »Bezaubernde Frau, eiskalte Schlampe«, hatte er Mikolaj gewarnt, bevor sie sich ihrem Tisch näherten.
»Ich habe gehört, Sie haben bei dieser schrecklichen Sache geholfen«, sie senkte ihre Stimme, drehte sich um und streckte beide Hände nach ihm aus. Mikolaj war sich der Theatralik dieser Geste bewusst, ging aber ohne eine Sekunde zu zögern einen Schritt auf sie zu und legte sogar ihre eiskalten Hände an seine Brust. Die Maskenbildnerin verschwand.
Mariannas Hände bewiesen unerwartete Geschicklichkeit, und sie war es schließlich, die den Tokajer öffnete. Sie hatten es mit einem Kugelschreiber versucht, mit einem Schraubenzieher und mit einem Schlüssel. Am Ende gewann ihr Schlüssel, der kurze und kräftige Haustürschlüssel. Er besaß ein untypisches ovales Ende, mit dem sie den Korken in die Flasche drücken konnten, ohne ihn zu zerkrümeln. Sie saßen in dem kleinen, nach der Schauspielerin Zańkowiecka benannten Theater-Café und öffneten den Wein unter dem Tisch – man schrieb die düsteren Jahre der Gorbatschow’schen Prohibition –, und ihre Hände berührten sich immer wieder. Sie bestellten sogenannte Cocktails: Traubensaft mit einer Kugel Eis. Sie waren allein im Saal, im Hintergrund liefen Alla Pugatschowas Hits. Hinter der Theke beobachtete sie aus halbgeschlossenen Trinkeraugen ein dicke alte Frau mit weißer Haube, die sie sich ins Haar geklemmt hatte. Gleich wie – Marianna hatte darauf bestanden, die Oper so schnell wie möglich zu verlassen und etwas zu tun, das ihr helfen würde, den Todesfall im Publikum zu vergessen.
Sie redete ohne Ende. Über den heutigen Vorfall und über die Aida-Inszenierungen in anderen Theatern,