Die Frau meines Vaters. Anja Röhl

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Die Frau meines Vaters - Anja Röhl

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sei.

      Zu Hause packt das Kind jedes Geschenk sorgfältig mit Schleifen ein. Am Ende liegt auf dem Bett ein Berg in Weihnachtspapier eingewickelter Geschenke. Als die Mutter nach Hause kommt, blickt sie überrascht auf die Sachen.

      »War dein Vater hier?«, fragt sie erschrocken und deutet auf die Geschenke. Die Mutter glaubt, der Vater hat all das gekauft. Das Kind sagt nein, aber die Mutter glaubt das nicht. Die Mutter schimpft, sie sagt, sie wolle nicht, dass Papi sie mit Geschenken erpresse.

      Sonja wohnt in einer kleinen Wohnung um die Ecke in einem großen, alten Häuserblock. Die Wohnung hat eine Stube und ein Schlafzimmer, beide nach vorn gelegen, aber die Kinder dürfen dort nicht hinein. In der Stube wohnt ein Onkel Walther, der liegt immer auf dem Sofa, ruht aus oder schläft. Im Schlafzimmer stehen die Elternbetten, von denen nur eines benutzt wird. Sonjas Vater ist auch weggegangen. Bei Sonja kommen nie andere Männer, da gibt es nur den Onkel auf dem Sofa, der aber nie etwas sagt. Sonjas Mutter kommt jeden Nachmittag nach Hause und macht Essen, lässt für den nächsten Tag etwas übrig, damit Sonja am nächsten Mittag noch Essen hat, das sie sich warm machen kann. Wenn das Kind mit zu Sonja kommt, machen sie sich Zucker-Ei. Dazu trennen sie Eiweiß und Eigelb und schlagen jedes mit viel Zucker einzeln auf, am Ende geben sie es zusammen und schöpfen es mit einem kleinen Eislöffel ab. Sie spielen im Hof Gummitwist und Abklatschball und turnen auf der Teppichklopfstange. Das Kind ist gern mit Sonja zusammen. Sie bauen sich aus vielen Decken auf dem Balkon eine Höhle, da kriechen sie hinein und essen Zucker-Ei, und das ist das Allerschönste.

      Eines Tages sagt die Mutter, der Arzt habe gesagt, das Kind müsse verschickt werden, in ein Heim. Es sei zu dünn und zu oft krank. Auf dem Land wird man gesund, bei frischer Luft. Das Wort Heim macht dem Kind Angst. Die Mutter sagt, dort sei es gut. Das Kind findet das nicht. Statt in die Schule zu kommen, bekommt es ein Schild um den Hals und wird mit vielen anderen Kindern zu einem Zug gebracht. Schüchtern sitzen sie zusammen in der Eisenbahn. Sie fahren nach Wyk. Das ist auf Föhr, einer Insel in der Nordsee. Zu den Erzieherinnen müssen sie Tante sagen. Das kennt das Kind aus dem Kindergarten.

      Abends liegen sie im Schlafraum. Es ist ein riesiger Schlafraum, mit vielen kleinen Feldbetten. Eine Tante ist hinten im Raum, kommt immer näher. Das Kind liegt unter der grauen Decke und hat Angst. Denn die Tante geht von Bett zu Bett, nimmt die Hände der Kinder hoch, besieht sie lange und legt sie wieder hin. Und was macht sie dann? Sie zieht etwas Weißes aus der Tasche, steckt die Hände der Kinder hinein und schnürt sie mit einem Band unten am Bett fest. Das Kind beobachtet die Tante und rührt sich nicht. Die weißen Stofflappen sind Handschuhe ohne Finger. Plötzlich versteht das Kind: Die Kinder, die noch am Daumen nuckeln, werden mit ihren Händen ans Bett gebunden. Der Schrecken fährt dem Kind über die Haut, bis hin zum rechten Daumen. Ohne den kann es nicht einschlafen. Deshalb ist der rechte Daumen auch kleiner als der linke. Das kann man sehen. Das Kind legt die Hände rechts und links aufs Bett. Als die Tante ganz nahe ist, schließt das Kind die Augen, hält die Luft an, stellt sich tot. Die Erzieherin geht vorbei, Glück gehabt!

      Tagsüber kommen sie in einen großen, kahlen Raum. Der Raum ist viereckig, leer und bis unter die Decke gekachelt. Die Mädchen bekommen kleine schwarze Brillen, die sie aufsetzen müssen. Es riecht komisch. Dort müssen sie sich nackt ausziehen und Plumpssack spielen. Derweil scheinen grüne Lichter. Sie bleiben lange dort drinnen. Es ist kalt und unangenehm. Das Kind will nicht nackt sein und nicht Plumpssack spielen. Danach treffen sie eine andere nackte Gruppe, Jungen, im Treppenhaus. Das Kind schämt sich und möchte weglaufen. Die Erzieherinnen lachen darüber.

      In diesem Heim schämt sich das Kind oft und hat immer Angst, für irgendetwas bestraft zu werden. Deshalb muss es gut aufpassen. Dabei hat es keine Zeit, an Zuhause zu denken. Das Kind hat vergessen, dass es in der Dehnhaide wohnt. Es denkt auch nie an die Eltern, nur manchmal an die Oma. Die Kinder bekommen keine Briefe und dürfen nicht telefonieren. Der Alltag ist ausgefüllt mit Pflichten und Dingen, die sie falsch gemacht haben und für die sie angemeckert werden.

      Sie lernen dort unheimliche Lieder, die das Kind voller Wehmut mitsingt: »Wildgänse rauschen durch die Nacht mit schrillem Schrei nach Norden; unstete Fahrt habt Acht, habt Acht, die Welt ist voller Morden …«

      Die Verschickung dauert sechs Wochen. Nach Hause werden Karten geschickt, die haben die Tanten geschrieben. Auf denen steht, dass es den Kindern gut gehe. Das Kind darf nicht in den Raum, wo die Karten liegen.

      Als es wieder zu Hause ist, will es nie wieder verschickt werden. Das war ein ganz schlimmes Heim, sagt das Kind.

      Selten kommt Besuch in ihre Wohnung. Das Kind freut sich, als einmal ein Onkel mit seiner Frau kommt. Doch da muss das Kind Mittagsschlaf halten. Durch die Wand hört es den Onkel lachen und mit der Mutter reden. Da schleicht es hinaus, möchte horchen, was geredet wird. Plötzlich sieht das Kind in der Küche einen Geldschein liegen, groß und bunt auf dem Tisch. Der Schein will, dass das Kind die Hand ausstreckt und ihn einsteckt, heimlich, und wegläuft, ganz schnell, zurück ins Bett und den Atem anhält, und lauscht und Angst hat, entdeckt zu werden, mit klopfendem Herzen.

      Später hört sie die Mutter durch den Flur laufen und rufen. Das Herz klopft schneller. Am Tonfall erkennt das Kind, dass die Mutter etwas gemerkt haben muss. Sie ruft laut. Das Kind beginnt zu schwitzen, die Kehle ist wie zugeschnürt, es hat Angst. Warum hat es das getan? Es öffnet die Augen und blickt auf das Glas in der Tür. Die Erwachsenen schwimmen wie durch Wasser, sie laufen in die Küche, sie rufen erstaunt, aufgeregt, sie trappeln mit den Füßen, sie reden laut, sie flüstern. Das Kind tastet nach dem Geldschein, zieht ihn hervor, wie einen großen Schatz. Leise steigt es aus dem Bett und schleicht auf nackten Füßen hinaus, tastet sich durch den Flur, schlüpft durch die Küchentür und legt vorsichtig den Geldschein zurück. Dann legt es sich zitternd wieder ins Bett und zieht die Decke über den Kopf.

      »Bist du neuerdings ein Dieb, klaust Geld?«, schimpft die Mutter, als der Besuch endlich weg ist. Das Kind rührt sich nicht. Es weiß, dass man nichts klauen darf, es schaut auf die Tür. Die Mutter schimpft, das Kind sieht aus dem Fenster. Die Bäume haben keine Blätter. Vögel springen von Ast zu Ast, schwarz mit gelben und grünen Linien gemustert.

      »Was soll das einmal werden?«, fragt die Mutter. So schlägt sie dem Kind mit der Hand über das Gesicht. Tränen laufen dem Kind über die brennenden Wangen.

      Es dreht sich zur Seite, sieht die Stofftiere an, die in Reih und Glied auf dem Regal stehen. Warum bin ich geboren?, denkt das Kind. Die Mutter läuft raus, die Tür knallt, die Glasscheibe klirrt, das Kind weint, die Mutter im anderen Zimmer weint auch.

      Einmal hat die Mutter Schmerzen. Sie ruft nach dem Kind. Die Mutter krümmt sich, sie weint, hat Krämpfe, mühsam stößt sie hervor: »Eine Nierenkolik … bitte hol jemanden!« Das Kind steht da, sieht die Mutter an, zögert.

      Der nächste Krampf kommt, die Mutter stöhnt, muss sich am Bett festhalten, schreit nach Hilfe. Das Kind will die Mutter trösten und sucht dazu ein Lied. Es fällt ihr keins ein, dann aber doch, das singt die Oma immer: »Heile, heile Segen, morgen gibt es Regen, übermorgen Sonnenschein, wird bald wieder besser sein!« So singt das Kind der Mutter ein Lied vor, ein Lied, das tröstet, und ist froh, eins gefunden zu haben.

      »Hol die Nachbarin!«, stößt die Mutter verzweifelt hervor. Doch das Kind hat Angst, weil der Mann der Nachbarin immer so viel schimpft und sie meist die Tür nur einen ganz kleinen Spalt aufmachen, nie hat das Kind die Nachbarin bisher außer durch den Spalt gesehen, und immer dachte das Kind, dass die Nachbarin nicht mag, wenn man klingelt. Endlich aber holt es doch die Nachbarin, und die Mutter wird weggebracht in ein Krankenhaus.

      Später erzählt die Mutter der ganzen Familie, dass das Kind ihr nicht geholfen, nur immer ein dummes Lied gesungen habe. Sogar die lieben Tanten schütteln den Kopf über so viel Dummheit. Warum hat das Kind nicht sofort Hilfe geholt und stattdessen nur gesungen? Dabei singen die Erwachsenen

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