Die Zeit mit Anaïs. Georges Simenon

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Die Zeit mit Anaïs - Georges  Simenon Die großen Romane

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      Georges Simenon

      Die Zeit mit Anaïs

      Die großen Romane – Band 72

      Aus dem Französischen von Ursula Vogel

      Atlantik

      1

      Er war nichts weiter als ein Mann am Steuer, der an diesem Abend sein Auto bei strömendem eiskaltem Regen erst durch das Lichtermeer von Paris, dann durch die Vorstadt und schließlich auf die große Landstraße lenkte, wo ihm andere Wagen zwischen aufspritzendem Wasser entgegenkamen. Er hatte Ortsschilder gesehen, ohne sie zu lesen, und war dann in diesen dichten Wald eingetaucht, wo die Tannen sich über ihm zu einer Kuppel wölbten. Er war das pulsierende, schmerzerfüllte Zentrum der Welt und jeder Wassertropfen, den der Scheibenwischer zur Seite fegte, wie ein Gestirn; die nadelförmigen Regenspritzer, die von seinen Scheinwerfern gleichsam aufgesogen wurden, setzten sich aus Myriaden von Sternen zusammen, und auch die anderen Scheinwerfer eben noch auf der Landstraße, jene trüben Augen, die aus dem Nichts auftauchten und unter lautem Gedröhn wieder dorthin zurückkehrten, waren Meteore wie er selbst, die keuchend ins Unendliche stürzten.

      Im Vorbeifahren hatte er kleine schimmernde Rechtecke zwischen dunklen Mauern gesehen, Lampen, die von der Decke herabhingen, und Menschen, die in ihrem Licht saßen. Und er glaubte mit einem Mal alles zu begreifen, wie es einem manchmal im Traum oder bei Fieberanfällen ergeht. Kaninchen waren vor ihm über die Straße gelaufen, und auch das fügte sich zu einem Ganzen, denn alles war wie unlösbar ineinander verwoben: das schlürfende Geräusch der Räder auf dem nassen Boden, das gleichmäßige Brummen des Motors, das unerbittliche Hin und Her der Scheibenwischer, die jedes Mal kurz bebend innehielten, bevor sie zu einer neuen Bewegung ansetzten. Selbst sein Pulsschlag, den er hören konnte, den er deutlich als ein Pochen außerhalb seines Körpers wahrnahm, wirkte mit im schwindelerregenden Crescendo dieser Symphonie, die ihn unaufhaltsam fortriss.

      An einer Kreuzung sah er einen fahlen Wegweiser, der in verschiedene Richtungen zeigte. Aber immer noch wurde die Fahrbahn von dicht aneinandergedrängten Bäumen gesäumt, zwei Mauern aus Stämmen und schwarzer Nacht im Lichtbündel der Scheinwerfer, dazwischen die glitschige Spur, deren Pfützen er eine nach der anderen spritzend durchfuhr, und dazu das Prasseln des Regens – diese Tränen, die im Zickzack über die Scheiben rannen.

      Der Geruch nach verbranntem Gummi war ihm entgangen, und ganz plötzlich, als die Symphonie schon ins Unerträgliche anzuschwellen schien, brach sie unvermittelt ab, und um ihn herum waren nur noch Dunkelheit und Schweigen.

      Der Motor stand still. Die Scheinwerfer waren erloschen, wie auch der schwache, anheimelnde Lichtschein des Armaturenbretts. Das Auto bewegte sich nicht mehr, hing nutzlos und ein wenig schief über der Böschung.

      Das einzig Lebendige auf dieser Welt war der stumpfsinnige, monotone Regen, der auf das Wagenblech trommelte.

      Ihn fröstelte, er befühlte seine klammen Finger, tastete nach seinem Regenmantel, fand ihn nicht und erinnerte sich, dass er ihn in der Wohnung vergessen hatte. Er fischte eine Zigarette aus seiner Westentasche, musste sich mit der Zungenspitze die Lippen anfeuchten, so ausgetrocknet waren sie. Er hatte keine Streichhölzer. Er kam nicht gleich darauf, dass der elektrische Zigarettenanzünder nicht funktionierte.

      Er blieb lange unbeweglich, mit leerem Kopf sitzen, schließlich drückte er sich den Hut tief in die Stirn, stellte seinen Jackettkragen hoch und öffnete, die unangezündete Zigarette im Mundwinkel, die Wagentür, streckte seine Füße in die Nacht hinaus und trat zögernd, ja, wie mit einem Gefühl des Ekels auf den schlammigen Weg.

      Er folgte einem Lichtschein, der da und dort zwischen den Bäumen hindurchschimmerte, und bald entdeckte er eine abschüssige Wiese, die offenbar zu einem Bauernhof gehörte, aber er blieb auf dem Weg, der jetzt nur noch an einer Seite vom Wald gesäumt wurde. Eine weitläufige Lichtung tauchte auf, niedrige Häuser, aus denen Rauch aufstieg, einige erleuchtete Fenster, der gedrungene Schatten einer Kirche mit einem seltsamen, spitz zulaufenden Turm, wie er noch keinen gesehen hatte.

      Er kam an ein Ortsschild, aber es war zu dunkel, um die Aufschrift lesen zu können, zu dunkel auch, um auf seiner Uhr die Zeiger zu erkennen. In der Mitte eines Platzes stand ein Haus mit drei erleuchteten Fenstern, zwei davon gaben den Blick auf Regale mit Lebensmitteln frei. Eine Glastür war mit durchsichtigen Reklameschildchen beklebt.

      Er stieß die Tür auf, was eine Ladenglocke in Bewegung setzte. Sogleich strich ihm eine Katze um die Beine, und beinahe wäre er gestürzt, weil er eine Stufe übersehen hatte. An der mit schwarzen Balken durchzogenen Decke brannte eine einzige verstaubte Glühbirne, und die Luft stand so still, dass er erst meinte, der Raum sei leer.

      Doch gleich tauchte hinter den Bonbongläsern, mit denen der Ladentisch vollgestellt war, das Gesicht einer alten Frau auf. Die Alte sah ihn schweigend an, dann wandte sie sich zum rückwärtigen Raum, wo vier Männer auf Korbstühlen um einen Tisch mit Flaschen und Gläsern saßen.

      Die Männer sahen zu ihm herüber. Auch zwei Jagdhunde, die unter dem Tisch lagen, ließen kein Auge von ihm. Drei der Männer trugen Jägerjoppen und lederne Gamaschen, der Vierte, beleibter und älter als die anderen, in weißem Hemd und Straßenhose, hatte sich eine blaue Schürze umgebunden.

      Über dem Kamin, in dem ein paar dicke Scheite brannten, stand ein Reklamewecker, dessen Ticken deutlich zu hören war. Er zeigte halb zehn an.

      Die ersten Worte, die über seine Lippen kamen, hatte er sich nicht vorher zurechtgelegt, und sie schienen ihm auch keineswegs fehl am Platz. Er trat mit ausgestreckter Hand an den Ladentisch.

      »Haben Sie Streichhölzer?«

      Die Alte rührte sich nicht von der Stelle, doch der Mann mit der Schürze erhob sich, begab sich hinter die Theke, als wollte er seinen schweren Leib wie eine Art Schutzwall vor die Frau schieben.

      »Streichhölzer wollen Sie?«

      Er nickte. Er brachte sogar ein schüchternes Lächeln zustande, als er seine unangezündete Zigarette, die vom Regen ganz aufgeweicht war, wegwarf und sein Päckchen aus der Tasche zog.

      Er fühlte sich bemüßigt, gleichsam entschuldigend hinzuzufügen:

      »Der Zigarettenanzünder geht auch nicht.«

      Mit einem verstohlenen Blick zu seinen Tischgenossen hatte der Mann eine große Schachtel Schwefelhölzchen, wie man sie heute noch auf dem Land verwendet und die mit einer winzigen blauen Flamme zu brennen anfangen, auf den Ladentisch gelegt.

      »Ich glaube, ich sollte etwas zum Aufwärmen trinken.«

      Seine nassen Finger waren so klamm, dass er kaum fähig war, das Streichholz anzureiben.

      Er bekam keine Antwort. Sie warteten ab, ließen ihn nicht aus den Augen.

      »Haben Sie Rum?«

      »Nur Branntwein.«

      »Schenken Sie mir ein Glas ein.«

      Diesmal warf der Wirt mit der Schürze den anderen einen vielsagenden Blick zu und sagte zu seiner Frau:

      »Setz dich rüber.«

      Sie trug einen schwarzen Wollschal, den sie enger um ihre Schultern zog, als sie sich in einem Korbsessel zur Rechten des Kamins niederließ, während ihr Ehemann sich dem Regal zuwandte

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