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Es ist nicht so richtig klar, ob dieser Lehrplan noch ernst gemeint oder schon eine Karikatur jener Beschwörungstänze ist, die in den Schulbehörden und Pädagogikhochschulen seit geraumer Zeit rund um das Wort der Kompetenz dargebracht und immer bizarrer werden. Ich bemühte die Suchfunktion. Auf 62 nicht gerade dicht beschriebenen Seiten fand sich der Wortstamm 194-mal. In allerlei Verbindungen, die die Autoren – allem Anschein nach Nominalstilisten mit Kompositakompetenz – zu bilden in der Lage waren: »Methodenkompetenz«, »Kompetenzerwartungen«, »soziale Kompetenzen«, »Urteilskompetenzen«, »gesellschaftswissenschaftliche Kompetenzen«, »Sachkompetenzen«, »Kompetenzentwicklung«, »Handlungskompetenzen«, »alltagssprachliche Kompetenzen«, »historisch-politische Kompetenzen«, »vertiefte Kompetenz«, »Kompetenzbereiche« und »vernetzte Kompetenzen«. Tatsächlich um Gesellschaft, Geschichte und Politik (im Lehrplan »Inhaltsfelder« genannt) geht es nur ganz dünn am Rande.
So unverfroren macht sich im Bildungswesen das Desinteresse an den Inhalten breit. Letztlich bedeutet das auch für die Fähigkeiten (= Kompetenzen) nichts Gutes, die sich schließlich nicht an sich, sondern in Beziehung zu ihren Inhalten und Bestimmungen entwickeln.
Zusammensetzung der Schülerschaft
Die meisten Schüler erlangen an dieser Schule den Haupt-, ein paar auch den Realschulabschluss. Achtzig Prozent der Schüler (und zwanzig Prozent der Lehrer) haben einen Migrationshintergrund; vierzig bis fünfzig Prozent sind Muslime; sechzig Prozent Jungs.
Tigrans Bühne
10. Klasse, Vertretungsunterricht: Tigran fiel als Erster im Klassenraum auf. Hyperaktiv und attraktiv, wie er war, warf er sich johlend mal auf einen Mitschüler, mal auf eine Mitschülerin, aalte sich auf Bänken und ließ sich kitzeln.
Es klingelte zum Stundenbeginn und ich wollte wissen, welche Berufe die Schüler nach der Schule anstrebten. Krankenschwester, Zuhälter, Maschinenbauer, Drogendealer, Dönerladenbesitzer waren die mehr oder weniger ernst gemeinten Antworten. Wieder fiel mir auf, was schon in anderen Klassen meine Aufmerksamkeit geweckt hatte: Die wenigen Schüler ohne Migrationshintergrund wirken mehrheitlich wie Schlaftabletten, während nicht wenige Schüler mit Migrationshintergrund, etwa Tigran aus Armenien, hyperagil zu sein scheinen.
Dann berichtete mir die Klasse, sie hätten den Lehrer vor mir, der in einer Vertretungsstunde Unterricht habe durchsetzen wollen, mit Papierkugeln beworfen. »Wir hassen Lehrer«, meinte einer. Ich fragte nach, ob es nicht besser sei, Unterricht zuzulassen, wegen Abschlussprüfung und Abgangszeugnis. Und Tigran fragte mich, ob er nach hinten zu einer Mitschülerin dürfe, er habe nämlich Druck. Da war er schon unterwegs, deutete Kopulation an, stürzte sich auf seine Mitschülerin, die fröhlich aufkreischte, während er lauthals bekundete, einen Ständer zu haben. Die Klasse johlte.
Um nicht mit Papierkugeln beschmissen zu werden, beschränkte ich mich auf die Rolle eines Betreuers im Jugendclub. Ich setzte nur Grenzen, wenn es zu laut oder ungestüm wurde, ging im Raum rum und führte freundlich Gruppen- und Einzelgespräche. Man könnte von »vertrauensbildenden Maßnahmen« sprechen, soweit damit weder der prekäre Zustand verleugnet wird, worin sie nottun, noch die Gefahr, seitens der Schüler für immer auf diese pädagogische Methode reduziert zu werden.
Willkommensklassen
Die Willkommensklassen dienen dazu, Schülern, welche die deutsche Sprache nicht beherrschen, diese beizubringen, bevor sie, je nach Talent nach ein oder zwei Jahren, in die sogenannten Regelklassen kommen. Etwa die Hälfte der Willkommensklassenschüler stammt aus Vorderasien und Nordafrika, ein Viertel aus Südosteuropa, ein weiteres Viertel aus dem Rest der Welt. Die Willkommensklasse A besteht aus Anfängern (zwölf- bis sechzehnjährig), die Willkommensklasse B aus Fortgeschrittenen (dreizehn- bis siebzehnjährig). Im Kontrast zu den Willkommensklassen werden die herkömmlichen Klassen Regelklassen genannt.
Haram
Willkommensklasse B: Unvorbereitet erfuhr ich, gleich als Vertretung in den Deutschunterricht in die Willkommensklasse zu müssen. Ich schnappte mir im Lehrerzimmer eine ausgelesene »Bild«-Zeitung und schnitt verschiedene Texte zu verschiedenen Themen wie Fußball, Politik, Lokales, Klatsch und Tratsch heraus. In Arbeitsgruppen sollten die Texte gelesen und vorgestellt werden. Bei einem Text über einen syrischen Flüchtling, der seine syrische Freundin erstochen hat, weil diese ihn hatte verlassen wollen, hatte ich Bedenken: Würden sich die syrischen Schüler durch den Text in ein schlechtes Licht gerückt fühlen?
Weit gefehlt, genau diese drei Syrer (alles Jungen) krallten sich den Text. Sie kannten den Fall aus den sozialen Netzwerken, wie sie mir aufgeregt auf ihren Smartphones demonstrierten.
Nachdem sie den Vorfall sachlich geschildert hatten, fragte ich, was sie davon hielten. Ihre Antwort: »Eine Frau mit einem Messer angreifen? Das ist haram.«
Florinel, ein bulgarischer Junge, setzte aus dem Auditorium mit fester Stimme hinzu: »Ein Mann, der eine Frau angreift, macht sich selbst zu einer Frau.«
Während der Arbeitsgruppenphase in der Willkommensklasse B ging ein Schüler irakisch-kurdischer Herkunft durch die Klasse, um zu gucken, was die anderen AGs für Texte hätten, aber eigentlich, um seinen Bewegungsdrang zu stillen. Weil ich ihn nicht gleich stoppte, verfiel er im Rumlaufen in einen kurdischen Tanz (»Ich tanze Dabke«) und zog alle Aufmerksamkeit auf sich, was es dann schwieriger machte, ihn zu stoppen.
Vlad heißt mich willkommen
6. Klasse, Religionskurs: Der Islamlehrer war krank. Diesmal, im Jahrgang sechs, wurde das Kurssystem aufrechterhalten, indem seine Schüler auf die restlichen Kurse aufgeteilt wurden.
Ich wollte in meinem Kurs jedes Kind kennenlernen und hatte drei Fragen an die Tafel geschrieben. Aus den geplanten zwanzig Minuten Vorstellungsrunde wurden siebzig. Nicht, weil es so gut lief, sondern weil die Mehrheit im Kurs triebhaft oder bewusst keinen Unterricht zuließ.
»Können wir mit unseren Handys spielen?«
»Unser Klassenlehrer erlaubt uns das.«
»Herr Giessler, können Halima, Dani und ich mal rausgehen? Wir müssen etwas Wichtiges besprechen!«
»Herr Lehrer, kann ich mir unten im Schulimbiss ein Getränk kaufen?«
»Es ist der letzte Block, ich habe Durst.«
Nebenbei auch noch dies: Alexander, ein Russlanddeutscher, klein und unschuldig guckend, provozierte hinter meinem Rücken eine eingeschworene Jungengruppe (John, Dominic, Lucian, Faris und last but not least Vlad), die sich nicht zweimal bitten ließ. »Hast du Hurensohn gesagt, hast du meine Mutter beleidigt?« Ein Wort gab das andere. Drohende Gebärden obendrein. Probehalber sprang man schon mal Richtung Gegner auf. Ich drohte nicht mit Aktennotizen; als Anfänger waren mir deren System und Gewicht noch fremd. Aber immerhin behielt ich die Kontrolle, zwar nicht über den Unterricht, an den in den letzten dreißig Minuten nicht mehr zu denken war, aber als Dompteur.
Doch kaum dass es klingelte und alle aufsprangen, kam es noch im Klassenraum zur Prügelei. Ich ging schnell dazwischen, sodass nichts weiter passierte, und hatte somit nicht Feierabend, sondern Diskussionen an der Backe. Alexander behauptete, ihm seien von seinen Kontrahenten zwei Euro entwendet worden, Faris erklärte mir stolz, er sei Klassensprecher und lasse sich von mir nichts sagen, Vlad, der dickste und schwungvollste