Alpendohle. Swen Ennullat

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Alpendohle - Swen Ennullat

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dachte, die meisten seiner damaligen Freunde und Bekannten sind verstorben?“

      „Du kennst ihn auch“, erwiderte sie. „Er war auf der Beerdigung deines Großvaters, ein hagerer alter Mann. Er lief an Krücken, und das sehr schlecht. Du hast ihn gestützt, als er damit in der weichen Friedhofserde einsank. Erinnerst du dich?“

      Torben nickte zwar, aber seine Erinnerung an den Mann, von dem seine Mutter sprach, war nur sehr vage. Es war ein regnerischer und trüber Nachmittag gewesen. Das Wetter hatte zu dem Anlass gepasst. Sollte er irgendjemandem geholfen haben, so hatte er es als nicht besonders wichtig erachtet und einfach vergessen.

      Sein Mutter redete weiter: „Sein Name ist Konrad Reiher. Dein Großvater und er haben sich wohl im Krieg kennengelernt und vor einigen Jahren – wie sollte es in ihrem Alter auch anders sein – auf der Beerdigung eines gemeinsamen Bekannten wiedergetroffen. Sie haben danach ab und zu miteinander telefoniert. Reiher wohnte zu diesem Zeitpunkt schon in einem Pflegeheim. Ich glaube, es befindet sich am Crossinsee. – Mir fällt gerade ein, bei der Beisetzung deiner Großmutter habe ich ihn gar nicht gesehen. Es wäre sicherlich sehr schade, aber vielleicht ist er ebenfalls schon verstorben. Er müsste ja auch bereits weit über achtzig Jahre alt sein und gesund sah er schon damals nicht aus. Einen besseren Rat kann ich dir wirklich nicht geben. Es tut mir leid.“

      „Das muss es nicht! Vielleicht besuche ich ihn einmal, danke für den Hinweis. Möglicherweise lasse ich die Geschichte aber auch auf sich beruhen“, antwortete Torben und meinte es auch so. Im Augenblick waren das Buch und dessen rätselhafte Herkunft für ihn nicht so wichtig.

      Er nahm den rechten Arm und zog seine Mutter an sich. Zwar tat er das, um ihr durch die körperliche Nähe etwas Kraft zu vermitteln, aber eigentlich – so gestand er sich ein – war es schon immer genau umgekehrt gewesen.

      Seine Mutter, die instinktiv wusste, wie lange solche Momente dauern durften, ohne für Torben peinlich zu erscheinen, raffte sich kurz darauf auf – obwohl sie die Umarmungen ihres Sohnes so genoss – und sagte: „Genug gefaulenzt, lass uns jetzt mit dem Ausräumen weitermachen. Wilfried glaubt sonst noch, er muss hier alles alleine machen!“

      „Wissen Sie, wie man mich früher nannte? Sie werden nie darauf kommen! – Füchschen! Sie können mir ruhig glauben, meine Kameraden nannten mich tatsächlich kleines Füchschen, weil ich so flink und manchmal auch so schlau war.“ Konrad Reiher kicherte. „Und jetzt? Jetzt werde ich, sobald das Wetter es zulässt, an das Ufer dieses Sees geschoben, damit ich ein paar alten Schachteln beim Füttern der Enten zusehe. Das Schlimmste daran ist, dass ich bestimmt zwanzig Jahre älter als jede von denen bin, aber ich werde gewiss wohl noch einige überleben! Freiwillig gehe ich jedenfalls nicht von dieser Welt! Meine Kinder sollen sich ruhig noch eine Weile ärgern, dass meine komplette Rente und mein Erspartes für den Heimplatz draufgehen.“

      Torben hatte sich zwei Tage nach dem Gespräch mit seiner Mutter entschlossen, den alten Bekannten seines Großvaters aufzusuchen. Als Enkel und auch aus journalistischem Interesse wollte er keine Möglichkeit verstreichen lassen, doch noch zu erfahren, wie das gefundene Buch mit der geheimnisvollen Widmung in den Besitz seines Großvaters gelangt war, und der Hinweis auf Konrad Reiher war die einzige Spur, der er folgen konnte. Eine Spur, die sich noch bester Gesundheit erfreute, wenn man ein Leben im Rollstuhl, auf den Reiher mittlerweile angewiesen war, wie Torben in einem Telefonat mit dem Pflegeheim erfuhr, so nennen konnte. Er hatte das Gespräch mit der Hausleitung gleich als Anlass genutzt, um sich bei dem Kriegsveteranen für den nächsten Tag anzumelden.

      Während ihn eine junge, wenn auch anscheinend etwas spröde Pflegerin mit einer erstaunlich wohlgeformten Figur, die dafür verantwortlich war, dass sich Torben insgeheim für seinen Ruhestand schon in der Einrichtung einschrieb, durch den Garten geleitete, entschloss er sich, Reiher noch nichts von dem Buch zu erzählen, sondern nur zu fragen, woher sein Großvater und er sich kannten. Das Zurechtlegen einer Geschichte, um das Gespräch im weiteren Verlauf auf den Krieg zu lenken, erwies sich allerdings als gänzlich überflüssig. Denn Konrad Reiher, wie Torben hörte, selbst verwitwet und Vater zweier Söhne, die ihn aber nie besuchten, und Großvater mehrerer Enkel, deren genaue Anzahl und Namen er aber nicht kannte, lebte – gefangen in einem gelähmten Körper – gedanklich noch das Leben eines jungen, agilen Mannes, dessen Vater ein hoher, dem Führer bis zum Ende treu ergebener NS-Funktionär in Berlin war und der selbst mit voller Überzeugung seine Zukunft in der Wehrmacht gesehen hatte.

      Kaum dass Torben von der jungen Pflegerin, die ihn zum Abschied doch noch angelächelt hatte, als Enkel von Hans Schauweiler vorgestellt wurde, schien Konrad Reiher im Geiste ins Deutschland der Vierzigerjahre zurückzureisen. Die Informationen über seinen Großvater, die Torben erhofft hatte, sprudelten neben vielen anderen Geschichten über vermeintliche Heldentaten und Einschätzungen der damaligen Kriegstaktiken wie ein Wasserfall nur so aus dem Greis heraus.

      Torben erfuhr, dass sein Großvater und Reiher sich bei einem Kur­aufenthalt in Bad Düben kennengelernt hatten, da beide fast zeitgleich bei Bombenangriffen der Alliierten durch Granatsplitter verletzt worden waren. Allerdings waren die Verwundungen nicht so schwerwiegend, dass sie zwei einundzwanzigjährige junge Männer davon abhalten konnten, die Wiesen, Felder und vor allem Schenken des Umlandes unsicher zu machen. In den gemeinsamen vier Wochen war eine Männerfreundschaft entstanden, die jedoch laut Reiher zwangsläufig abrupt endete, als beide wieder an unterschiedliche Frontabschnitte zurückbeordert wurden. Eher beiläufig erklärte er Torben, dass man sich lediglich noch einmal wiedergesehen hätte. Dieses Wiedersehen sei für die Freundschaft allerdings irrelevant gewesen. Darüber bräuchte man jetzt nicht mehr zu sprechen.

      Torben, der nach fast zwei Stunden auf einer unbequemen Gartenbank endlich den Eindruck hatte, an einem entscheidenden Punkt angelangt zu sein, versuchte das Gespräch in eine ihm genehme Richtung zu wenden. „Herr Reiher, ich möchte nicht unhöflich sein, ich würde natürlich sehr gerne wissen, warum Sie zum Beispiel Füchschen genannt wurden, aber können sie mir nicht noch etwas über das Wiedersehen mit meinem Großvater erzählen? Meine Familie weiß nämlich nicht, wie er die letzten Kriegsmonate verbracht hat.“

      „Mein lieber Junge“, der bislang so redselige Reiher schien schlagartig ernster und verschlossener, „ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich so tief in der Vergangenheit ihres Großvaters und der meinen graben sollten. Ich habe vor langer Zeit einen Eid geschworen, über bestimmte Dinge nicht zu sprechen. Natürlich nehme ich nicht an, dass irgendjemand, dem ich damals verpflichtet war, noch am Leben ist. Dieser Schwur ist also für mich nach der langen Zeit theoretisch nicht mehr bindend. Zwar könnte ich darüber reden, aber dass Sie heute hier bei mir sind und Fragen stellen, zeigt mir, dass sich auch Ihr Großvater bis zu seinem Tode verpflichtet gefühlt hat, Stillschweigen darüber zu wahren. Selbst in unseren letzten gemeinsamen Jahren haben Ihr Großvater und ich nie ein Wort darüber verloren.“

      Die Ablehnung Reihers deutlich spürend, folgte Torben einem spontanen Gedanken und konfrontierte ihn mit einer Vermutung: „Sie haben beide den Führer an dessen Todestag getroffen, richtig?“

      Einen kurzen Augenblick schien Reiher verblüfft. Er fing sich aber sofort wieder, setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf und blickte über den See. Ohne Torben anzuschauen, antwortete er: „Ich wusste bis heute nicht, dass Ihr Großvater den Führer persönlich getroffen hat. Aber offensichtlich besitzen Sie mehr Informationen als ich. Erzählen Sie mir davon und wir wollen sehen, ob ich Ihnen weiterhelfen kann.“

      Torben beschloss, das Risiko einzugehen und Reiher zumindest teilweise in Kenntnis zu setzen. „Mein Großvater hat ein Treffen mit Hitler nie erwähnt. Ehrlicherweise muss ich zugeben, hat er fast nie vom Krieg gesprochen. In seinem Nachlass habe ich jedoch eine Ausgabe des Buches ‚Mein Kampf‘ mit einer persönlichen Widmung des Führers gefunden. Die Widmung ist auf den 30. April 1945 datiert.

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