Passierschein, bitte!. Nancy Aris

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Passierschein, bitte! - Nancy Aris

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Im Buchungskalender sah ich, dass Wladimir eine seiner zwei Wohnungen unmittelbar nach meiner Antwort vermietet hatte. Ich war entnervt und buchte mich für die ersten zwei Nächte im Hostel ein. Vor Ort würde ich schon etwas finden.

      Doch drei Tage vor meinem Abflug überkamen mich doch Zweifel, auch Brockmann hatte auf meine vielen Mails nicht reagiert. Also entschied ich, es noch einmal zu versuchen. Ich war sauer über diese Russen mit ihren unfreundlichen Antworten, die alle nur irgendwelche Neubaubuden loswerden wollten und dabei so taten, als ob sie Paläste an der Côte d’Azur vermieteten. Entsprechend unfreundlich fiel auch meine zweite Anfrage aus. Ich schrieb Wladimir, dass ich mich zum letzten Mal melden würde, dass ich nun klipp und klar wissen wolle, ob er mir die Wohnung vermieten könne und was er dafür haben wolle. Zwei Stunden später hatte ich eine genaue Preisauflistung und die Reservierung. Das also war es. Ich hätte von Anfang an schroffer sein sollen …

       Mein Vermieter Wladimir quittiert alles ganz genau. Für zehn Nächte zahle ich 15 000 Rubel.

      Nun stehe ich mit diesem Wladimir vor dem Lebensmittelgeschäft, an unserem Treffpunkt. Eigentlich sieht er ganz nett aus. Wir gehen zusammen in die Wohnung. Er macht tausend Fotos von meinem Ausweis und schreibt mir Ewigkeiten eine Quittung aus. Seine Frau Olga wundert sich, dass ich keinen Vatersnamen habe. Die Wohnung ist sehr einfach, aber die Aussicht ist toll. Der Zwanzigstöcker steht hundert Meter links von meinem Fenster. Glück gehabt. Der Tisch in der Kochecke ist an der Wand festgeschraubt, nichts soll hier verrückt werden. Zum Glück finde ich unter dem Tisch ein verstecktes Nachtschränkchen. Das wird mein Couchtisch, wenn Wladimir weg ist.

      Das Internet funktioniert nicht wirklich. Wladimir fragt, ob mir der kleine Fernseher reicht? Ich antworte, dass der offenbar so klein ist, dass ich ihn nicht einmal sehe. Olga kringelt sich vor Lachen. Wladimir zeigt auf ein Navi-ähnliches Gerät über dem Wasserkocher. Der winzige Monitor ist auch festgeschraubt – direkt neben der Wohnungseingangstür. Ich stelle mir kurz den gemütlichen Fernsehabend zwischen Wohnungseingang, Klotür und Kühlschrank vor. Nein, da lasse ich Wladimir den Fernseher lieber holen, auch auf die Gefahr hin, dass es ihr eigener Fernseher ist, auf den sie dann verzichten müssen. Und ich lasse das Gitterbett wegtragen, das das Zimmer noch kleiner macht und irgendwie für Zellenatmosphäre sorgt. Ein bisschen komme ich mir wie eine Despotin vor, aber ich weiß, dass ich überdurchschnittlich viel für diese Bude bezahle und deshalb soll es wenigstens etwas gemütlich sein.

      Wir gehen rüber in seine Wohnung. Hinter der Wohnungstür steht man direkt in der fensterlosen Küche. Dieser Geruch, die Töpfe, ich verlangsame die Atmung, raus. Wir werkeln wieder bei mir, ich am Internet, Wladimir am Fernseher. Er fragt, ob wir zum Du wechseln können. Dann ist er weg. Endlich allein, ich dusche und koche mir einen Tee, der ungenießbar modrig schmeckt. Dabei hatte ich die Kanne so gut ausgewaschen. Putze schnell ein Fenster, damit ich das Meer klarer sehe, und töte zwei kleine Kakerlaken im Klo. Ich ordne Ewigkeiten meine Papiere und vergesse dann doch mein Empfehlungsschreiben.

       Mein Zimmer: einfach, aber mit sensationellem Blick aufs Meer

      Im Archiv sind trotzdem alle nett. Natürlich will Swetlana vom Lesesaal mein Empfehlungsschreiben sehen. Morgen! Ich muss tausend Formulare ausfüllen, weil ich kein Schreiben habe. Swetlana fragt, ob ich nicht auf Russisch unterschreiben könne. Ich entgegne, dass es dann keine Unterschrift mehr sei, weil Russisch nicht meine Muttersprache ist. Sie lässt sich nicht beirren und besteht auf einer russischen Unterschrift. Swetlana ist ein Riesenweib und erinnert mich an eine Kollegin. Sie hat Monsterbrüste, die sie auf dem Tisch ablegt. Ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll, weil ihr Oberteil weit ausgeschnitten ist. Swetlana ist weit über fünfzig, sie ist braun gebrannt und hat straffe Haut. Ihre Fülle verleiht ihr Nachdruck.

      Dann erkundige ich mich nach den Kopien. Kopiert wird generell nicht. Man darf fotografieren und bezahlt pro Foto 3,50 Euro. Ich frage mich, wie man die Aufnahmen im Nachhinein zuordnen soll. Man müsste alles minutiös festhalten und am Ende käme man doch durcheinander. Ich denke, dass sie nicht schlecht verdienen, ohne einen Finger krumm zu machen. Dann bekomme ich einen Stapel Akten und versuche, etwas zu finden. Alles schwer zu lesen, alte, schnörkelige Handschriften, mit der Feder zu Papier gebracht, zudem mit Buchstaben, die nach der Oktoberrevolution abgeschafft wurden. Ich schlafe fast ein. Natalja, die stellvertretende Archivleiterin, kommt an meinen Tisch und erkundigt sich, ob alles gut läuft und ich mit den Akten zufrieden sei. Habe gerade erst 20 Seiten dechiffriert und bislang erst ein einziges Mal den Namen Dattan entdeckt. Gut sieht anders aus. Aber ich bin verzückt von den dicken Folianten, den Siegeln und Handschriften. Wahrscheinlich hätte man mir auch einen Stapel Gerichtsakten hinlegen können. Natalja will mich später auf ein Wort sprechen. Nach einer halben Stunde bittet sie mich in ihr Büro. Sie überreicht mir eine Visitenkarte und einen Kalender für 2013, im September. Darauf steht passend zum Archivjubiläum »70 Jahre auf Erinnerungswacht«. Selbst im Archiv geht es militärisch zu.

       Überall wird an das Archivjubiläum erinnert. Seit 70 Jahren ist man hier auf Erinnerungswacht.

      Sie entschuldigt sich fast, dass wir uns vorerst nur oberflächlich an das Thema herantasten können, und erkundigt sich, was ich genau wissen will. Natalja outet sich als Expertin, sie hat bereits in Tomsk alles gelesen und lässt sich über die Eigenheiten von Dattans Handschrift aus. Sie erzählt, dass das Archiv 1943 aus Furcht vor einer japanischen Militärintervention nach Tomsk evakuiert wurde und erst seit 1992 wieder am alten Platz ist, auf Veranlassung Jelzins. Dann meint sie, dass morgen der Lesesaal geschlossen sei, weil das 70-jährige Archivjubiläum gefeiert wird, das gilt aber nicht für mich, ich könne trotzdem bis mittags arbeiten, und dann holt sie feierlich einen Umschlag heraus. Der Direktor habe auch mich zum Empfang eingeladen. Ich fühle mich geehrt, gleichzeitig ist mir das ein wenig peinlich. Dann gehe ich wieder in den Lesesaal und vergrabe mich in meine Akten. Dattan wurde zum Ehrenbürger ernannt. Er ersucht darum, dies bescheinigt zu bekommen. Ja, ja, die Deutschen … Ich gebe die Akten ab und Swetlana füllt feierlich meinen Passierschein aus, den Propusk, damit ich das Archiv verlassen kann.

       Für vieles braucht man einen Passierschein, auch für den Lesesaal

      Danach gehe ich zum Hafen, dorthin, wo die Ausflugsboote und Fähren zu den Inseln ablegen. Am Wochenende möchte ich dorthin. Ich frage die Kartenverkäuferin, welche Insel die schönste sei. Sie antwortet, dass sie noch nie auf einer der Inseln war. Ich frage eine Alte, die vor der Kasse steht und Fahrpläne abschreibt, das Gleiche. Sie meint, dass die Inseln alle sehr unterschiedlich seien. Ich frage sie, worin der Unterschied bestehe? Darauf sie – dass sie eben unterschiedlich seien. Ich hake nach und frage, ob die eine eher felsig, die andere eher flach sei? »Nein, Flaches gibt’s hier nicht.« Damit ist das Thema abgehakt. Sie fängt an, mir eine Rundfahrt über drei Inseln an einem Tag zusammenzustellen. Damit ich nicht so lange auf einer Insel, damit ich überhaupt nicht dort bleiben muss. Sind sie so schrecklich, diese Inseln? Nein, aber man bekommt Angst, wenn man dort steht und die große Stadt in unerreichbarer Ferne sieht … Ich fotografiere die Fahrpläne ab und gehe zurück an die Uferpromenade. Setze mich auf die Nobelterrasse des Festivalpavillons und trinke in gediegenem Ambiente einen Cappuccino. Ich bin der einzige Gast. Dabei ist es nicht einmal besonders teuer. Um mich herum wischt eine alte Frau mit einem Feudel, damit der Boden immer schön in der Sonne spiegelt. Sie ist eine typische Putzfrau, wie zu Sowjetzeiten, nur trägt sie keine graue Schürze, sondern einen weinroten Overall mit einem Aufnäher am Arm »Dr. Best Catering«. Sie kommt mir mit ihrem Wischlappen bedrohlich nahe. Bis zu meinem Fuß sind es nur noch 20 Zentimeter. Ich bin ihre Existenzberechtigung. Säße ich nicht hier, hätte

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