Im grünen Raum von Saint-Leu. Peter Lenzyn

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Im grünen Raum von Saint-Leu - Peter Lenzyn страница 3

Im grünen Raum von Saint-Leu - Peter Lenzyn

Скачать книгу

begriff – und wenn man von keinen Verhältnissen sprechen konnte, legte er sie mit ein paar im Fernsehen gebrummten Sätzen fest. Er hatte so eine besondere, überzeugende Präzisionsstimme, die tief und kraftvoll war und den Nippes auf den Kaffeetischen zum Hüpfen brachte. Und wie er es schaffte, für die gesamte Wirtschaft des Landes die Verhältnisse festzulegen, meinte er, es auch für meine Mutter und mich tun zu können.

      Ich ging also auf das Lycée Général, kam in die Première und sah mich umgeben von Schülern, die sich messingpolierte Brieföffner zum Geburtstag wünschten, ihren Eltern eine Freude damit bereiteten, lange Abschnitte aus den Iliaden auswendig aufzusagen – und klare Ideen darüber hatten, was sie später mal werden wollten.

      Als sie erfuhren, dass ich viele Jahre auf La Réunion gelebt hatte, wussten sie erst nicht, wo das war, und als sie von ihren Eltern hörten, dass das eine der französischen Inseln im Indischen Ozean wäre, schoben sie ganz hauptstädtisch hinterher, dass ich demnach aus dem Konfetti des Imperiums stammte.

      Ich hatte ziemliche Anlaufschwierigkeiten. Meine Schulnoten waren schlecht, ich ließ mich hängen. Meine Mutter wusste nicht, wie sie mit mir umgehen sollte, sie bestellte einen Nachhilfelehrer. Der Nachhilfelehrer roch so stark, dass ich es ihm sagte: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich vor ihrem nächsten Besuch gründlich waschen würden, bitte auch unter den Achseln und an den Genitalien.“

      Statt sich vor dem nächsten Besuch ordentlich zu waschen, warf der Nachhilfelehrer meiner Mutter vor, sie hätte mich überhaupt nicht erzogen und würde ihrer Verantwortung als elterliche Instanz nicht nachkommen. Er beendete sein Erscheinen bei uns mit dem Zuschlagen der Wohnungstür, welches, da es sich um eine schwere Altbautür handelte, einen ziemlichen Eindruck hinterließ.

      Meine Mutter glaubte wirklich, sie würde sich hinsichtlich meiner Erziehung nicht verantwortungsvoll verhalten und machte sich allerhand Gedanken, wie sie mich für die Schule begeistern könnte.

      Ich war wieder einmal mit einer schlechten Note nach Hause gekommen. „Sieben!“, sagte ich und warf mein Physikheft auf den Küchentisch. Meine Mutter schaute mich an, begann zu weinen und sagte: „Ach, tu mir das doch jetzt nicht an.“ Für einen Moment bekam ich Schuldgefühle, welche mich vielleicht dazu gebracht hätten, etwas für die Schule zu tun. Aber ich bemerkte, dass meine Mutter Zwiebeln schnitt, und auch sie bemerkte, dass ich es bemerkt hatte – es waren also die Zwiebeln, die sie zum Weinen brachten –, und dann fiel uns nichts Besseres ein als zu lachen; das Lachen krampfte sich in uns fest, meine Mutter konnte sich kaum noch halten, und dann rutschte ihr auch noch das Messer aus der Hand, es fiel herunter und rammte seine Spitze ins teure Teakparkett. Wir schauten auf das dort zitternd stehende Messer und verstanden es als Symbol der so strengen Familie meines Vaters – und dann lachten wir erst recht; wir lachten und lachten, uns rollten die Tränen die Wangen herunter, ach, das tat uns gut – es war ein kurzer Moment, für den wir befreit waren von diesem wahnsinnig ernsten Paris, diesen ganzen Menschen, die sich hinter Fehlerlosigkeit und Hochpräzision verschanzten und es willig hinnahmen, für ihre gute Stellung im Leben schlecht auszusehen.

      Irgendwann hörten wir mit dem Lachen auf, das Physikheft mit der Sieben lag immer noch auf dem Küchentisch.

      Ich brauchte wirklich sehr lange, um in mein Pariser Leben hineinzufinden. Dass es mir am Ende doch ein wenig gelang, verdanke ich meiner Kunstlehrerin, einer sehr jungen, aber auch sehr ernsten Frau, die mich zu fördern begann. Aber sie tat es auf eine sehr ungewöhnliche Art. Zum Beispiel bat sie mich, Jacopo Tintorettos Bild „Frau mit entblößtem Busen“ vor der ganzen Klasse zu interpretieren.

      „Was siehst du?“, fragte sie.

      „Ich … äh“, sagte ich.

      „Ja?“

      „Ich sehe eine Frau, die nach rechts guckt, also von mir aus nach rechts.“

      „Nach rechts?“

      „Ja … äh … nach rechts.“

      „Und was siehst du noch?“

      „Äh … sie trägt ein blaues Kleid … äh, ja … und sie hat … mmh … ziemlich dicke … äh ziemlich dicke … dicke … Hände.“

      „Das ist richtig, manche sagen, es seien Männerhände. Wenn man die Zeit berücksichtigt, in der das Bild gemalt wurde, kann das durchaus stimmen. Was schließt du daraus?“

      „Äh, woraus?“

      „Daraus, dass es Männerhände sein könnten.“

      „Äh, weiß nich.“

      „Vielleicht könnte die Person, die Modell gestanden hat, ein Mann sein.“

      „Äh … klar, ein Mann.“

      „Ja.“

      „Aber wenn das ein Mann ist, warum … äh … warum …?“

      „Warum was?“

      „Naja, also … äh … die Brüste.“

      „Du meinst den entblößten Busen?“

      „Äh … ja … die Brüste.“

      Die ganze Klasse lachte.

      Wer am lautesten lachte, musste mit der Interpretation des Bildes fortfahren. Wir stotterten uns durch die anzüglichen Bilder des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, und die Kunstlehrerin tat so, als würde sie überhaupt nicht verstehen, warum wir einen roten Kopf bekamen.

      Die Kunstlehrerin war fünf, höchstens sechs Jahre älter als ich. Sie hatte rotes, gewelltes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, und eine weiße, glasige Haut, unter der blaue Äderchen schimmerten, dazu ein schmales Gesicht mit grünen Augen, festem Blick und einer spitzen, etwas schiefen Nase. Manchmal überkam sie ein Zittern oder Schaudern, als kämpfte sie um ein inneres Gleichgewicht oder als fröre sie, fühlte sich unbehaglich. Manchmal dachte ich, sie sei nervös; aber sie war nie nervös, im Gegenteil, von ihr ging immer etwas sehr Festes aus. Sie war klein, sehr schlank – ich überlegte, sie zu fragen, ob ich sie einmal hochheben dürfte, ich wollte wissen, wie leicht sie war, sie musste überaus leicht sein.

      In der zweiten Jahreshälfte wechselten wir zur Kunst der Fotografie. Die Kunstlehrerin sprach vom Blick, den ein Fotograf hat. Sie wollte wissen, was für einen Blick wir hätten. Sie bat uns, zu bestimmten Themen Fotos zu machen – es waren Themen wie „Défense“, „Parks und Gärten“, „Champs Elysées“, „Warten“ und „Geschwindigkeit“. Ich bekam das Thema „Métro“. Ich sollte Fotos machen, die irgendetwas mit dem Thema „Métro“ zu tun hatten.

      Da ich die Métro genauso wenig wie Paris als Stadt mochte, machte ich Fotos, die meine angewiderte Haltung zum Ausdruck brachten. Die Fotos zeigten schwarze Tunnelöffnungen, aus denen die Métro kam oder in denen sie verschwand. Einen Jongleur, der seine fallengelassenen Bälle wieder aufsammelte. Schilder mit aufgestellten Metallnadeln gegen die Tauben. Müll, der durch die Gänge an der Porte de la Chapelle flog. Eine im Schienenbett herumirrende Ratte. Eine Frau im verrutschten Minirock, die ihren zu Boden geschlagenen Freund umarmte und dabei weinte.

      Die Kunstlehrerin beschäftigte sich mit meinen Fotos und erläuterte sie vor der Klasse. Sie sprach von der Abwendung von der Welt und der Suche nach einer neuen, sie sprach von Grenzen – verbotenen Zonen, gefährlichen Zonen – wer in sie hineintritt, erhofft sich etwas von ihnen … die Erfüllung von Sehnsüchten, eine Idee, erlösenden Tod oder

Скачать книгу