Der Regengott und andere Erzählungen. Alvydas Slepikas

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Der Regengott und andere Erzählungen - Alvydas Slepikas

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hört nichts, nur das Pfeifen des Windes. Dann bildet der Feuerwehrmann mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und brüllt.

      Und plötzlich spürt Laurinavičius, wie der Wind ihn emporhebt. Ja, in die Lüfte – das Hemd empfängt den Wind wie ein Segel, wie ein Drachen. Der Alte bekommt es mit der Angst zu tun, er hält sich an einem Ast fest, doch dann fasst er sich ein Herz: Er wollte doch schon immer fliegen, ist noch nie geflogen, jetzt aber ist er dazu entschlossen. Die werden staunen! Wozu die Feuerwehr rufen, wozu all der Lärm, der alte Laurinavičius ist selbst auf den Baum gestiegen und kann doch so lange dort oben hocken, wie es ihm gefällt, und dann wieder selbst heruntersteigen. Oder herunterfliegen – nach eigenem Gutdünken. Der Alte lässt den Lindenast los und erhebt sich ganz langsam, ganz ohne Eile in die Lüfte, die Maienwirbel tragen ihn. Er lacht glücklich, er freut sich, als er sieht, dass unten alle verstummen, so ein Wunder haben sie noch nie gesehen, sie lassen die Arme sinken, den Mund vor Staunen weit offen. Der Alte denkt nicht daran, wie er landen oder wohin er fliegen wird, das kommt ihm unwichtig vor. Er erhebt sich über die Linde hinaus, fast hätte er die Stromleitung berührt, er erschrickt ein wenig, doch dann gibt er sich erneut dem Wind hin und fliegt immer höher. Die ganze Umgegend tut sich in ihrer vollen Schönheit vor seinem Blick auf. Alles ist hier, alle Pfade, an einige kann er sich kaum mehr erinnern. Auch die Kirche. So weiß, das Dach so rot – ein herrlicher Anblick für den Herrn des Hauses, denkt Laurinavičius bei sich. Er hätte weinen können, doch der Wind trocknet seine Augen.

      Vögel fliegen vorbei. Schnelle und glückliche Tauben.

      Löwenzahnflaum fliegt vorbei. Winzig, wie kleine Fallschirme.

      Die Zeit fliegt vorbei. Die vergessene und wieder erwachte Jugend.

      Der Mond fliegt vorbei. Die gewetzte Sichel des Halbmonds.

      Ist das ein Wind, denkt Laurinavičius, ist das ein Wind … Ach Malenija, wenn du wüsstest, dass du mit mir fliegen könntest. Jetzt weiß Laurinavičius, jetzt weiß er genau, was sein Aleksas fühlt, wenn er mit dem Hubschrauber fliegt.

      Was noch fliegt vorbei? Sein getigerter Kater. Gut, dass er am Leben ist, das liebe Dummerchen. Herrgott, war das ein Wind, sogar seinen Kater hat er gepackt und wirbelt ihn herum – als wäre die Physik außer Kraft gesetzt.

      Die Leute stehen da und staunen, die Münder weit geöffnet. Die Köpfe in den Nacken geworfen, sie atmen kaum. Laurinavičius sieht sie an und lächelt. Ihm kommt das merkwürdig vor – was tun sie nur hier? Warum sind sie hier zusammengekommen? Wegen eines einfachen fliegenden Menschleins, das den Iltissen das Fell abzieht, das sich um alle kümmert, da jemand das tun muss?

      Was sehen sie, woran denken sie, voller Staunen und Ernst? Warum winken sie jetzt und wozu raten sie Vincelis, der die rote Feuerwehrleiter mit den Beinen umklammert. Wen holt er da vom Baum herunter? Wer ist der Alte mit dem Hemd, aufgeblasen wie ein Segel?

      Laurinavičius sieht, wie der alte Mann mit großer Mühe aus der Linde klettert, wie die Feldscherin dem glatzköpfigen Alten zu Hilfe eilt. Er sieht, wie sich die Nachbarn über diesen alten, unbekannten Mann beugen. Er sieht, wie jener wieder zu sich kommt und leer dreinblickt. Man fragt ihn etwas. Offenbar antworten die Nachbarn.

      Schön, alles von oben zu betrachten. Und gut. Der Mond, dieser Frühlingsmond, lässt Leben und Kraft auf und ab wogen. Trägt sie mit den Winden fort.

      Ach, die Maienwirbel!

      Die Rallye des blauen Abends

      Wir warteten. Saßen auf der mächtigen, vornübergebeugten Korbweide und warteten. Weit unter unseren baumelnden Beinen, unter der alten Weide, befand sich eine Straße mit einem tiefen Straßengraben, an dessen Hang dieser Baum wuchs, dessen Rinde wir mit unseren Armen, Beinen und Hintern schon tüchtig abgerieben hatten. Das war unser Geheimversteck, aus dem wir Kinder die auf der Straße vorbeigehenden Menschen beobachteten, die unter uns hindurchtauchenden Autos und Fahrradfahrer mit Kirschkernen bewarfen. Die Kirschen pflückten wir gleich hier: Über die schaukelnden Äste gelangten wir zum Punkt, wo sich die Weide mit Raškevičius’ gewaltigem Kirschbaum verflocht, der voller Beeren, Vögel und im Wind wehender Vogelscheuchen war.

      Heute waren wir besonders still. Ich saß da und ließ die Beine baumeln, auch Gintas schwieg, und sogar Rimvis, der nicht ruhig sitzen kann. Wir warteten. Das ganze Städtchen wartete: Niemand ging oder fuhr, sogar die Vögel und Hunde auf den Höfen schwiegen. Vor einem rußgeschwärzten Haus saß auf einer niedrigen, mit grünem Moos und gelblichen Flechten überwachsenen Bank der alte Šeikis, die Hände des Flieders wogten über ihm auf und ab wie Fächer – auch er sagte fast nichts, brüllte nicht, drohte nicht, sondern nuschelte nur etwas in den Bart und paffte seine Papirossa der Marke „Kasbek“, während seine Hände verschränkt auf einem Stock mit einer Beule lagen.

      Wir saßen da, beobachteten den Rand des verstummten Städtchens. Fast wortlos spähten wir die Gegend ab wie die Spatzen aus dem Nest, ein jeder in seine Gedanken versunken. Ich habe heute zum vierten Mal „Schnee auf dem Kilimandscharo“ gelesen, und da ich dieses traurigste aller gelesenen Bücher einfach nicht vergessen konnte, dachte ich über Nick Adams und über den wahnsinnigen Boxer Eddy nach, stellte mir vor, ich wäre im Zug, der in den Westen rast – ich wollte genauso frei sein wie sie. Dann kam mir plötzlich wieder in den Sinn, dass Mutter einkaufen war, und ich verspürte großen Hunger. Das Eigelb der Sonne, das am dunkelblauer werdenden Vorabendhimmel brutzelte, schwebte schon in die dunkelgrünen Bäume des Friedhofs voller Vogelnester und Ängste herab. Die Straße tauchte unter unserer Weide hindurch, bog nach Westen, einen Hang hinunter, verzweigte sich dann plötzlich und stieg dann erneut einen Hügel empor, und zwischen den beiden Zweigen erstreckte sich wie eine Insel im Fluss der alte Friedhof. Hinter der leicht zerfallenen Mauer dösten schwarz gewordene, flechtenüberwachsene Grabsteine, Denkmäler mit Aufschriften in Litauisch und Polnisch, bedrängt von Flieder, Akazien, verwildertem Salbei, Jasmin und Brennnesseln. Jetzt dachte ich über die Frühlingsfluten nach, die über die Senke zwischen den beiden Straßenabschnitten hereinbrachen, die Frauen ertränkten, die die Gräber zurechtmachten, über die Gruben (hier holten die Frauen den weißen, sauberen Sand, mit dem sie die Wege bestreuten), die über den kleinen Damm der Landstraße drangen, die Gräber in der Nähe der Friedhofsmauer überschwemmten. Wie schwer, dachte ich, würden es wohl die Bewohner dieser Gräber, die polnischen Adligen und anderen Unbekannten haben, wenn sie am Ende der Tage aus der glitschigen, feuchten Erde steigen sollten, wie schrecklich musste es doch für sie sein, in den mit Schmelzwasser überschwemmten Gräbern zu liegen.

      Wir warteten. Unser Warten war fröhlich und feierlich, wie die ganze Stille dieses dunkelblauen Abends. Zur Linken des Friedhofs, da, wo die dem Städtchen entronnene Landstraße sich an den Fluss der Autobahn lehnte, entzündete sich auf dem Hügel ein Holzhaufen. Die Männer des Städtchens brachten trockene Äste aus dem Kiefernwäldchen und warfen sie in die Flammen. Von unserem Versteck aus sahen sie aus wie Ameisen. Die Ameisen warteten auch.

      Das Feuer erinnerte mich wieder an den Hunger. Heute war Donnerstag, fiel mir ein, da wurde frischer Fisch in den Laden geliefert, und Mama briet ihn jetzt, nachdem sie ihn erst in Mehl gewendet hatte. Der Fisch duftete, das Öl brutzelte. Donnerstag ist mein Lieblingstag, ich vergöttere gebratenen, im Mund zergehenden Fisch. Jeder Bissen Fisch ist ein Teil des Geheimnisses des Meeres, das ich in meinem Körper hüte: Merkwürdig zu wissen, dass Tiere zu mir werden, die das Gold versunkener Schiffe gesehen haben. Jetzt aber wollte ich trotz meines großen Hungers nicht nach Hause. Ich wartete geduldig, zusammen mit dem ganzen Städtchen, zu dem auch ich gehörte.

      Von dort, wo der Holzstoß brannte, rannte Hals über Kopf ein winziges Menschlein in unsere Richtung. Das war Algis. Er war zwei Jahre jünger als wir, und obwohl wir ihn nicht in unser Versteck auf der Weide ließen („Damit er nicht zu Boden plumpst“, wie Rimvis sagte), vertrieben wir ihn auch nicht wie die anderen Kleinen.

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