Gorbatschow. Ignaz Lozo
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Während Raissa Gorbatschowa sich mit vollem Engagement ihrer Lehrtätigkeit widmete und darin aufging, erklomm ihr Mann im März 1961 die letzte Stufe im Komsomol: Er wurde Erster Sekretär des Regionskomitees und durfte im selben Jahr zum ersten Mal in den Moskauer Kreml. Als einer der Delegierten seiner Region nahm er am XXII. Parteitag der KPdSU teil und erlebte dort aus nächster Nähe zwei wichtige Momente der sowjetischen Geschichte.
Zum einen ließ Kreml-Chef Nikita Chruschtschow ein neues Parteiprogramm verabschieden, das den Sowjetbürgern eine paradiesische Zukunft versprach. Ihm waren die zweifellos sensationellen und imponierenden Erfolge in der Raumfahrt, mit denen die Sowjetunion die USA überholt hatte, offenbar zu Kopf gestiegen. So besagte das neue Parteiprogramm, dass die Sowjetunion 1970 die USA wirtschaftlich überholen werde und die Sowjetbürger 1980 nicht mehr im Sozialismus als einer Vorstufe des Kommunismus leben werden, sondern im Kommunismus selbst. Die SED-Führung im „Bruderstaat“ DDR feierte dies am 1. November 1961 auf der Titelseite ihres Zentralorgans Neues Deutschland und in großen Lettern: „Ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte. Das grandiose Programm zum Aufbau des Kommunismus beschlossen.“ Einige Tage zuvor hatten die deutschen Genossen geschrieben: „Die Verwirklichung dieses Programms bedeutet den Anbruch der glücklichsten Ära in der Menschheitsgeschichte.“37
Das Parteiprogramm, dieses Opus magnum der Chruschtschow-Führung, wurde im sowjetischen Fernsehen in voller Länge vorgelesen, sage und schreibe fünf Stunden lang. Die Euphorie Chruschtschows, die dahinterstand, scheint echt gewesen zu sein. Er glaubte offensichtlich wirklich, was er da sagte und verabschieden ließ. Und so ging es auch dem 30-jährigen Gorbatschow, der damals nach eigenem Bekunden ein „aufrechter Anhänger“ des Parteichefs war und entsprechend gefesselt im Kreml lauschte.
Das zweite wichtige Moment auf diesem historischen Parteitag war, dass Chruschtschow nochmals gegen seinen Vorgänger ausholte und damit versuchte, die Entstalinisierung zu forcieren. Die Frage allerdings, wo er selbst und seine Genossen in der Führungsriege in der damaligen Zeit gewesen waren, beantwortete er nicht. Alle hatten sie zu Stalins Lebzeiten den Terror und das millionenfache Unrecht mitgetragen. Wer sich dagegen stellte oder auch nur den Anschein erweckte, wurde umgebracht. In Anbetracht dieser unmittelbaren und permanenten Bedrohung in Stalins Reich, sind moralische Urteile schwerlich zu fällen. Es sei denn, man hätte die Möglichkeit gehabt, rechtzeitig und unverdächtig aus dem Führungskreis freiwillig auszusteigen, den Stalin nach und nach etabliert hatte.
Hatten ab 1956 die Rehabilitierungen der Opfer im Vordergrund gestanden sowie die Wiedergutmachungsversuche, so sorgte Chruschtschow jetzt dafür, dass Stalin aus dem öffentlichen Leben zunehmend verschwand. Denkmäler ließ er beseitigen und zahlreiche Städte umbenennen. Aus der Vielzahl seien hier nur die drei wichtigsten genannt: Stalingrad hieß ab jetzt Wolgograd; die ostukrainische Stadt Stalino bekam den Namen Donezk; und die Hauptstadt der tadschikischen Sowjetrepublik wurde umbenannt von Stalinabad in Duschanbe.
Sogar Alexander Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch – eine Novelle über den menschenverachtenden Alltag eines Gefangenen in einem sowjetischen Arbeitslager – durfte 1962 erscheinen. Die größte Symbolik hatte aber Chruschtschows Entscheidung, Stalins Leichnam umzubetten. Nach seinem Tod 1953 hatte er den größten Ehrenplatz im Mausoleum auf dem Roten Platz bekommen – neben dem Staatsgründer Lenin. Sogar die Schrift über dem Haupteingang lautete „Lenin Stalin“. Am Abend des 31. Oktober 1961 jedoch, nachdem der Parteitag geendet hatte, ließ Chruschtschow den einbalsamierten Leichnam Stalins in einen Sarg legen und an der Kreml-Mauer beerdigen. Acht Jahre lang war es nur ein einfaches Grab, bis Chruschtschows Nachfolger Leonid Breschnew 1969 dort eine Büste anbringen ließ.
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