Das deutsche Zimmer. Carla Maliandi

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Das deutsche Zimmer - Carla Maliandi

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habe ich nicht vergessen, Sertal einzupacken. Ich stehe auf, ziehe mich rasch an, fahre mir, statt mich zu kämmen, bloß mit den Fingern durch die Haare und gehe in den Speiseaal hinunter. Dort machen sich mehrere Studenten gerade Kaffee und bestreichen Toaste. Mir ist nicht klar, wie das mit dem Frühstück geregelt ist, ich weiß nicht, ob ich mich einfach bedienen darf oder zuerst jemanden fragen muss. Dass dies kein Hotel ist, versteht sich, das Essen servieren wird mir niemand. Jetzt begreife ich, was Frau Wittmann mit »Frühstück machen« gemeint hat. In jedem Fall isst hier jeder etwas Verschiedenes, die einen Toast, andere bloß Joghurt oder Obst oder Müsli. Die Sachen entnehmen sie einem großen Kühlschrank, ich sehe, dass auf den Gefäßen, in denen sich die Speisen befinden, Namensschildchen kleben. Vor der Kaffeemaschine hat sich eine kleine Schlange gebildet, an einigen Tischen werden leise Unterhaltungen geführt, an anderen frühstückt jemand allein vor seinem aufgeklappten Notebook, ohne sich umzusehen. Es ist mir peinlich, so unschlüssig und schlecht gekämmt dazustehen. Ich beschließe, in die Stadt zu gehen und in einem Café zu frühstücken, wenigstens heute.

      Heidelberg ist ein Ort wie aus einem Märchen, wie aus einer anderen Wirklichkeit, eine der wenigen deutschen Städte, die im Zweiten Weltkrieg nicht völlig zerbombt wurden. Ich versuche, die Straßen wiederzuerkennen. Ich habe die ersten fünf Jahre meines Lebens hier verbracht. Manches ist mir noch vertraut – die Bäckereien, das Neckarufer, der Geruch auf der Straße. Es ist ein warmer, strahlend schöner Tag. Ich gehe in dem Märchen spazieren, atme tief durch, tue, als hätte ich mich verlaufen, finde – welch Überraschung! – den Weg wieder. Am Marktplatz betrete ich ein Café und bestelle ein Frühstück. Es besteht aus Brötchen, Käse, Wurst, Orangensaft und einem großen Milchkaffee. Der Kellner fragt, woher ich komme, er spricht über Fußball, kennt die Namen aller Spieler der argentinischen Nationalmannschaft. Ich nutze die Gelegenheit, um Deutsch zu üben, ohne mich allzu sehr anstrengen zu müssen. Ich habe bereits gemerkt, dass ich die Sprache nicht mehr ohne weiteres verstehe, ich habe viel vergessen, die paar Grammatikübungen, die ich mir vor der Abreise im Internet zusammengesucht habe, haben nicht gereicht, und nur mit meiner guten Aussprache kann ich das alles, anders als gedacht, nicht wettmachen. Während der Kellner mir von Messi erzählt, überlege ich, wie ich das mit der Verständigung am besten hinbekomme. Wenn es nicht anders geht, kann ich auch Englisch sprechen. »Sí, Messi es un genio«, sage ich zuletzt auf Spanisch. Der Kellner lacht und geht zu einem Gast an einem anderen Tisch. Auf dem Weg dorthin wiederholt er amüsiert »genio«, »ein Genie, ha ha«. Ich verschlinge das Frühstück gierig bis auf den letzten Krümel. Ein alter Mann am Nachbartisch beobachtet mich aus dem Augenwinkel, neben ihm sitzt ein kleiner Hund, offensichtlich sein Begleiter. Der Mann streichelt ihn mit der einen Hand, in der anderen hält er seine Tasse. Ich überlege, wie alt er sein mag, und frage mich, was er wohl im letzten Krieg gemacht hat. Was soll’s, selbst wenn er ein Nazi war, lange hat er so oder so nicht mehr zu leben. Plötzlich lächelt der Mann mich an. Vielleicht habe ich einfach zu viele Vorurteile, auf einmal kommt er mir jedenfalls bloß wie ein freundlicher alter Mann vor, der gemerkt hat, dass ich nicht von hier bin. Was denken die Leute, die mich hier sitzen sehen, wohl über mich? Ich versuche, mir vorzustellen, wie ich aussehe, mit dem ungekämmten Haar, das mir auf die Schultern fällt, der schlecht sitzenden Spange, die ich mir heute Morgen in aller Eile angesteckt habe, und der schönen, aber völlig verknitterten Bluse. Auf einmal kommt es mir nur noch lächerlich vor, wie ich hier versuche, die Ruinen zu kaschieren. Kaputt ist kaputt, egal, wo ich mich befinde – im Augenblick Tausende von Kilometern von meinem Heimatland entfernt, ohne mich mit meiner Umgebung richtig verständigen zu können und ohne zu wissen, was ich eigentlich vorhabe.

      Wenn ich wieder im Wohnheim bin, werde ich mir von Frau Wittmann eine Schere leihen und mir die Haare schneiden. Schon habe ich etwas vor. Die Haare hätte ich mir längst schneiden sollen. Der alte Mann vom Nachbartisch steht auf und geht hinaus, draußen auf dem Bürgersteig bleibt er noch einmal stehen und winkt mir zum Abschied durchs Fenster zu. Gerührt beobachte ich, wie er mit dem kleinen Hund davongeht. Ich zähle die Münzen für das Frühstück ab, sieben Euro. Sieben Euro ist für mein Reisebudget wahnsinnig viel. Ich frage mich, ob zwei dieser Münzen für mehrere Anrufe reichen. Ob es mir gelingen wird, meine Mutter zu beruhigen, die immer noch jammert, weil ich mich von Santiago getrennt habe, und jetzt auch noch damit wird fertig werden müssen, dass sie mich eine ganze Weile nicht zu sehen bekommt. Ob mir für die Leute, für die ich arbeite, eine gute Ausrede einfallen wird, wo ich diese Arbeit ohnehin fast verloren habe, weil ich im letzten Monat beinahe jeden Tag zu spät gekommen bin. Und ob ich imstande sein werde, den Anschluss des Hauses zu wählen, in dem ich bis vor kurzem gewohnt habe. Ob ich also imstande sein werde, Santiago anzurufen, mit dem ich schon so lange nicht mehr gesprochen habe, um ihm zu sagen: »Hallo, wie geht’s? Ich bin gerade in Deutschland.« Und dabei nur eins im Kopf zu haben – die flehentliche Bitte, an mich selbst und sämtliche Götter dieser Welt, dass mir ja nicht die Stimme versagt.

      3

      Ich bleibe den ganzen Tag in der Stadt. Erst um acht kehre ich ins Wohnheim zurück, da ist es schon dunkel. Frau Wittmann empfängt mich an der Tür und sagt, dass im Speisesaal jemand auf mich wartet. Mein Herz fängt an, wie wild zu klopfen, ich sehe Santiago vor mir, er ist gekommen, um mich zu holen, aber das kann nicht sein, unmöglich. »Auf mich? Sind Sie sicher?«, frage ich. »Ein Student aus Ihrem Heimatland, er möchte mit Ihnen sprechen«, erwidert sie, ohne mich anzusehen. Ich lächle ergeben und bedanke mich. Bevor ich weitergehe, frage ich, ob sie mir eine Schere leihen kann, und Frau Wittmann sagt, sie wird mal nachsehen, ob sie eine findet. Im Speisesaal sitzt ein junger Mann mit dunklem Teint, alles an ihm wirkt unverhältnismäßig groß, zugleich macht er einen etwas kindlichen Eindruck. Er beugt sich über ein Schachbuch. Als er aufblickt und sieht, dass ich auf ihn zukomme, erhellt sich sein Gesicht. Er dürfte nicht älter als fünfundzwanzig sein. Er sagt, er hat den ganzen Nachmittag auf mich gewartet. Ich habe ihn noch nie gesehen, aber er tut, als wären wir verwandt oder würden uns seit Ewigkeiten kennen. Er sagt, er ist aus Tucumán und heißt Miguel Javier Sánchez. Und dass er ein CONICET-Stipendium hat und dazu noch eins vom DAAD, dass er Wirtschaftspolitik studiert, vor einer Woche angekommen ist und heute erfahren hat, dass es noch jemanden aus Argentinien im Wohnheim gibt, mich. Er fragt, was ich studiere. Ich lüge und sage, ich mache einen Master in deutscher Dramaturgie. Frau Wittmann unterbricht uns, überreicht mir eine Schere und sagt, ich soll bitte vorsichtig damit umgehen. Ich bedanke mich bei ihr. Miguel Javier hört nicht auf zu sprechen, er erzählt von seinem Leben in Tucumán, von seiner bescheidenen Herkunft und davon, wie stolz seine Familie auf ihn ist, er ist der Einzige, der studiert, das Wunderkind. Dann fragt er, ob ich morgen mit ihm das Schloss besichtigen will. Ich sage ja, und dass der Weg dorthin herrlich ist, eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen. Er erklärt begeistert, dass er belegte Brote mitbringt und außerdem die Kamera, die er sich von der ersten Stipendienrate gekauft hat. Seine Begeisterung rührt mich ein wenig. Er hat den typischen Akzent der Leute aus Tucumán. Er sagt, er hat gelesen, dass das Schloss sehr schön sein soll. Dann höre ich nicht mehr zu und überlege stattdessen, wie ich mir die Haare schneiden soll. Zuerst die Spitzen, und dann so kurz, wie ich mich traue. Wenn es nicht gut aussieht, macht das nichts, hier kennt mich sowieso niemand. Miguel Javier – ein schrecklicher Name, wie sich das anhört! Die Kombination, so wie er selbst sie ausspricht, tut einem fast in den Ohren weh. Da fragt Miguel Javier, woran ich denke. Er sagt, er merkt, dass ich mit dem Kopf woanders bin. Ich erwidere, dass ich einen langen Tag hinter mir habe und müde bin. Dann verabschiede ich mich und sage, wir sehen uns morgen beim Frühstück.

      Nach dem Duschen und Haareschneiden bin ich erschöpft. Todmüde falle ich ins Bett, ich, die Prinzessin im Exil, die Studentin, die keine ist, die einsame Reisende, die Flüchtlingsfrau. Ich bin gerettet. In diesem Augenblick gibt es nichts Schöneres auf der Welt als die Einsamkeit dieses gemieteten Zimmers, mein europäischer Unterschlupf, nicht luxuriös, aber sehr komfortabel, mit soliden Fensterläden, einem weißen Federbett und einem makellos sauberen Kissen. Ich erinnere mich an das Märchen von der Prinzessin auf der Erbse, nicht einmal zwanzig Matratzen reichen aus, um sie ruhig schlafen zu lassen, sie spürt die harte Hülsenfrucht trotzdem, aber dafür ist sie adlig. Ich dagegen bin eine falsche Prinzessin, und nichts kann mich um den Schlaf bringen. Keine Stimme flößt mir Angst ein, nichts

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