Die Fieberkurve. Friedrich Glauser

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Die Fieberkurve - Friedrich  Glauser

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er der Erzählung, daß er gar nicht merkte, wie er sein linkes Auge arg verzog: schief sah es aus und geschlitzt, wie das eines Chinesen…

      Das Hochplateau!… Die weiten Ebenen!… Das grüne Abendlicht!… Der Soldat, der beichtet!…

      Es war doch etwas ganz anderes als das, was man tagtäglich sah! Fremdenlegion! Der Wachtmeister erinnerte sich, daß auch er einmal hatte engagieren wollen, zwanzig Jahre war er damals alt gewesen, wegen eines Streites mit seinem Vater… Aber dann war er – um die Mutter nicht zu betrüben – in der Schweiz geblieben, hatte Karriere gemacht und es bis zum Kommissär an der Berner Stadtpolizei gebracht. Später war jene Bankgeschichte passiert, die ihm das Genick gebrochen hatte. Und auch damals war wieder der Wunsch in ihm aufgestiegen, alles stehen und liegen zu lassen… Doch da war seine Frau, seine Tochter – und so gab er den Plan auf, fing wieder von vorne an, geduldig und bescheiden… Nur die Sehnsucht schlummerte weiter in ihm: nach den Ebenen, nach der Wüste, nach den Kämpfen. Da kam ein Pater und weckte alles wieder.

      »Er spricht also ziemlich lange, der Korporal Collani. In seiner resedagrünen Capotte sieht er aus wie ein erholungsbedürftiges Chamäleon. Er schweigt eine Weile, ich will schon aufstehen und ihn mit ein paar tröstenden Worten entlassen, da beginnt er plötzlich mit ganz veränderter Stimme, rauh und tief klingt sie, so, als ob ein anderer aus ihm rede, und die Stimme kommt mir sonderbar bekannt vor:

      ›Warum nimmt Mamadou das Leintuch vom Bett und versteckt es unter seiner Capotte? Ah, er will es in der Stadt verkaufen, der gemeine Hund! Und ich bin für die Wäsche verantwortlich. Jetzt geht er die Treppen hinunter, quer über den Hof zum Gitter. Natürlich, er wagt sich nicht an der Wache vorbei! Und am Gitter wartet Bielle auf ihn, nimmt ihm das Leintuch ab. Wohin will Bielle? Aha! Er läuft zum Juden in der kleinen Straße… Er verkauft das Leintuch für einen Duro… ‹«

      »Ein Duro«, erklärte Madelin, »ist ein Fünffrankenstück aus Silber… «

      »Danke«, sagte Pater Matthias und schwieg. Er griff unter den Tisch, beschäftigte sich mit seiner Kutte, die irgendwo eine tiefe Tasche haben mußte, und förderte aus ihr zutage: ein Nastuch, ein Vergrößerungsglas, einen Rosenkranz, eine aus roten Lederstreifen geflochtene Brieftasche und endlich eine Schnupftabaksdose. Aus dieser nahm er eine gehörige Prise. Dann schneuzte er sich laut und trompetend, der Beizer hinter dem Schanktisch schreckte auf, der Weiße Vater aber fuhr fort:

      »Ich sage zu dem Mann: ›Collani! Wachen Sie auf, Korporal! Sie träumen ja!‹ – Aber er plappert weiter: ›Ich will euch lehren, militärisches Eigentum zu verquanten! Morgen sollt ihr Collani kennenlernen!‹ – Da packe ich den Korporal an der Schulter und schüttle ihn gehörig, denn es wird mir doch unheimlich zumute. Er wacht wirklich auf und sieht sich erstaunt um. ›Wissen Sie, was Sie mir erzählt haben?‹ frage ich. – ›Doch‹, erwidert Collani. Und wiederholt mir, was er in der Trance – so nennt man doch diesen Zustand?… «

      »Sicherlich!« schob Godofrey eifrig ein.

      »… was er mir in der Trance erzählt hat. Darauf verabschiedet er sich. Am nächsten Morgen um acht Uhr – sehr klar war der Septembermorgen, man sah die Schotts, die großen Salzseen, in der Ferne funkeln – tret' ich aus dem Haus und stoße mit Collani zusammen, der vom Fourier und vom Hauptmann begleitet ist. Hauptmann Pouette erzählt mir, Collani habe ihm gemeldet, daß seit einiger Zeit Leintücher verschwänden. Und Collani kenne sowohl die Diebe als auch den Hehler. Die Diebe seien schon eingesperrt, nun komme der Hehler an die Reihe. – Collani sah aus wie ein Quellensucher ohne Wünschelrute. Seine Augen blickten starr, doch war er bei vollem Bewußtsein. Nur drängte er vorwärts…

      Ich will Sie nicht weiter langweilen. Bei einem Juden, der Zwiebeln, Feigen und Datteln in einem winzigen Lädlein feilhielt, fanden wir vier Leintücher auf dem Grunde einer Orangenkiste… Mamadou war ein Neger aus der vierten Kompagnie des Bataillons, er gestand den Diebstahl ein. Bielle, ein rothaariger Belgier, verlegte sich zuerst aufs Leugnen, dann gestand auch er…

      Von dieser Stunde an nannte man Collani nur noch den Hellseherkorporal, und der Bataillonsarzt, Anatole Cantacuzène, veranstaltete Séancen mit ihm: Tischrücken, automatisches Schreiben – kurz all der gottsträfliche Unsinn wurde mit ihm versucht, den hierzulande die Spiritisten betreiben, ohne eine Ahnung von der Gefahr zu haben, in die sie sich begeben.

      Sie werden sich fragen, meine Herren, warum ich Ihnen diese lange Geschichte erzählt habe… Nur um Ihnen zu beweisen, daß ich nicht gleichgültig bleiben konnte, als Collani mir eine Woche später Dinge erzählte, die mich, mich persönlich angingen…

      Es war der 28. September. Ein Dienstag.«

      Pater Matthias schwieg, bedeckte seine Augen mit der Hand und fuhr fort:

      »Collani kommt. Ich spreche zu ihm, wie es meine Pflicht ist als Priester, beschwöre ihn, die teuflischen Experimente zu lassen. Er bleibt trotzig. Und plötzlich wird sein Blick wieder leer, die Oberlider verdecken halb die Augen, ein unangenehm höhnisches Lächeln zerrt seine Lippen auseinander, so daß ich seine breiten, gelben Zähne sehe, und dann sagt er mit jener Stimme, die mir so bekannt vorkommt: ›Hallo, Matthias, wie geht's dir?‹ – Es war die Stimme meines Bruders, meines Bruders, der vor fünfzehn Jahren den Tod gefunden hatte!«

      Die drei Männer um den Tisch in der kleinen Beize bei den Pariser Markthallen nahmen diese Mitteilung schweigsam entgegen. Kommissär Madelin lächelte schwach, wie man nach einem schlechten Witz lächelt. Studers Schnurrbart zitterte, und die Ursache dieses Zitterns war nicht recht festzustellen… Nur Godofrey bemühte sich, die peinliche Unwahrscheinlichkeit der Erzählung etwas zu mildern. Er sagte:

      »Immer wieder zwingt uns das Leben, mit Gespenstern Umgang zu pflegen… «

      Das konnte tiefsinnig sein. Pater Matthias sagte sehr leise:

      »Die fremde und doch so vertraute Stimme redete aus dem Munde des Hellseherkorporals zu mir… «

      Studers Schnurrbart hörte auf zu zittern, er beugte sich über den Tisch… Die Betonung des letzten Satzes! Sie klang unecht, übertrieben, gespielt! Der Berner Wachtmeister blickte zu Madelin hinüber. Das knochige Gesicht des Franzosen war ein wenig verzerrt. Also hatte auch der Kommissär den Mißton empfunden! Er hob die Hand, legte sie sanft auf den Tisch: »Reden lassen! Nicht unterbrechen!« Und Studer nickte. Er hatte verstanden…

      »›Hallo, Matthias! Kennst du mich noch? Hast du gemeint, ich sei tot? Springlebendig bin ich… ‹ Und da bemerkte ich zum ersten Male, daß Collani Deutsch redete! – ›Matthias, beeil dich, wenn du die alten Frauen retten willst. Sonst komm' ich sie holen. Sie werden in… ‹ Da ging die Stimme, die doch nicht Collanis Stimme war, in ein Flüstern über, so daß ich die nächsten Worte nicht verstand. Und dann wieder, laut und deutlich vernehmbar: ›Hörst du es pfeifen? Es pfeift und dies Pfeifen bedeutet den Tod.

      Fünfzehn Jahre hab' ich gewartet! Zuerst die in Basel, dann die in Bern! Die eine war klug, sie hat mich durchschaut, die spar' ich mir auf. Die andere hat meine Tochter schlecht erzogen. Dafür muß sie gestraft werden.‹ Ein Lachen und dann schwieg die Stimme. Diesmal war Collanis Schlaf so tief, daß ich Mühe hatte, den Mann zu wecken…

      Endlich klappen seine Lider ganz auf, er sieht mich an, erstaunt. Da frage ich den Hellseherkorporal: ›Weißt du, was du mir erzählt hast, mein Sohn?‹ – Zuerst schüttelt Collani den Kopf, dann erwidert er: ›Ich sah einen Mann, den ich in Fez gepflegt hatte vor fünfzehn Jahren. Er ist gestorben, damals, an einem bösen Fieber… Im Jahre siebenzehn, während des Weltkrieges… Dann sah ich zwei Frauen. Die eine hatte eine Warze neben dem linken Nasenflügel… Der Mann damals in Fez – wie hieß er? wie hieß er nur?‹ – Collani reibt sich die Stirne, er findet den Namen nicht,

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