Neulich in Amerika. Eliot Weinberger
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Von außen betrachtet, scheint es, als bräche das europäische Utopia just kurz vor seinem größten Triumph auseinander. Einerseits ist die Europäische Union, die das Potenzial hat, vielen Teilen der Welt als Modell zu dienen – trotz aller Schwächen in der Maschinerie –, ein sehr bewegender Zusammenschluss von Nationen am jahrhundertelang vielleicht barbarischsten und blutrünstigsten Ort der Erde.
Andererseits wird das beinahe perfekte Sozialsystem in vielen Ländern allmählich abgebaut, hauptsächlich aufgrund von Vorbehalten gegen eingewanderte oder nicht-weiße Teile ihrer Bevölkerung. Sie spielen den Reaganismus nach, der die USA im Glauben, es sei besser, Dienstleistungen zu zerschlagen, als sie vermeintlich Unwürdigen anzubieten, erfolgreich in das reichste Dritte-Welt-Land verwandelt hat. Ich will hier nicht über Einwanderung diskutieren, möchte nebenbei aber zwei Dinge erwähnen. Die Europäische Union wurde erst möglich, als die Bevölkerung der einzelnen Staaten weniger homogen wurde; Euro-Bewusstsein fängt an, wenn man die Franzosen, die Deutschen oder Italiener nicht mehr definieren kann. Zweitens ist die Immigration, als Literat gesprochen, bei der Wiederbelebung der Literaturen der westeuropäischen Sprachen eine gewaltige Kraft: Neue Menschen bringen neue Geschichten mit, neue Sichtweisen und neue Ausdrucksformen. Und dies lässt sich auf alle Künste übertragen: Kulturell gesehen war die Einwanderung die Rettung Europas.
Es ist gut möglich, dass die USA, wie so manche geschrieben haben, im Augenblick ihrer grandiosesten imperialen Träume in Wirklichkeit am Anfang vom Ende ihres Reiches stehen. Als Amerikaner hoffe ich, dass die nächste Generation in einer Welt leben wird, in der die USA einfach ein Land wie jedes andere sind. Doch als Utopist denke ich, dass dies nicht durch kriegerischen Anti-Amerikanismus im Rest der Welt erreicht werden kann, sondern durch den positiven Einfluss einer neuen Form von Nicht-Amerikanismus.
Wie würde die Welt aussehen, wenn Europa das amerikanische Spiel einfach nicht mehr mitspielen würde? Wenn Europa, als das Nicht-Amerika, keine Waffen mehr in die Dritte Welt liefern würde, sondern nur noch humanitäre Hilfe? Wenn sich Osteuropa weigerte, den amerikanischen Militärschrott zu kaufen, den die NATO vorschreibt? (Oder noch besser: wenn Europa die USA gleich ganz aus der NATO werfen und diese in eine paneuropäische Friedenstruppe verwandeln würde?) Wenn Europa, als Nicht-Amerika, weltweit aktiv für Umweltschutz und reproduktive Rechte eintreten würde? Wenn der europäische Erfindergeist auf die Entwicklung alternativer Energien gelenkt würde, um uns alle von diesem kurzen und todgeweihten und blutigen Ölzeitalter zu befreien? Wenn Europa in kriegführenden Teilen der Welt von seinem diplomatischen Geschick Gebrauch machte und Friedensgespräche nicht von amerikanischen Launen und Lobbyisten abhingen?
Ich habe den Eindruck, dass das optimistische Europa-Bewusstsein, besonders bei den Jugendlichen, das mit der Gründung der EU aufkam, vom Anti-Amerikanismus neu belebt wurde, dem Gefühl, wie anders die Welt ist, in der Europäer leben. Es wäre eine enorme verpasste Gelegenheit, sollte diese Empfindung über Anti-Amerikanismus nie hinausgehen, besonders jetzt, da es mindestens eine weitere Generation lang so viele Staaten geben wird, die den USA misstrauen und sie offen verabscheuen.
George W. Bush hat gesagt – er hat es wirklich gesagt –: »Wir werden Tod und Gewalt in alle vier Ecken der Erde bringen, um unsere großartige Nation zu verteidigen.« Man muss davon ausgehen, dass die USA in absehbarer Zukunft der Grund für Kriege, innere Unruhen, ökonomische Ausbeutung und Umweltkatastrophen sein werden. Dies ist der Moment, da Europa eine Gegenmacht sein könnte, die ihre Ideen und ihr Handeln in Form von sozialer Gerechtigkeit und Wohlfahrt, Abrüstung, Meinungsfreiheit und Kultur als Quelle des Nationalstolzes exportiert. Gandhi sagte bekanntermaßen, die westliche Zivilisation wäre eine gute Idee. Es ist ein langer Weg, doch mir scheint, der einzige Ort mit Wohlstand und Technologie, wo dieser Weg momentan anfangen könnte, ist ein vereintes, multiethnisches Europa.
14. Mai 2003
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