Kieler Courage. Kay Jacobs
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»Dann lass ihn am Leben.«
Der Kriminalassistent wandte sich wieder dem Uniformierten zu, der schon, ein wenig verfrüht, leicht aufgeatmet hatte. »Sie sollen den Tatort sichern und nicht zerstören! Das muss man sich doch mal merken können!« Gerlach schnaufte ein paarmal. »Ziehen Sie jetzt ab. Und nehmen Sie das Ding da mit.«
»Jawohl«, hauchte der Schupo, griff nach einem halb vollen Wassereimer, der neben ihm stand, und verschwand.
Der Kommissar klopfte seinem sich allmählich beruhigenden Assistenten auf die Schulter. »Was ist passiert?«
»Achtzehnjährige weibliche Person, vermutlich ertrunken. Stand wahrscheinlich auf diesen Planken und fiel ins Wasser oder wurde hineingestoßen.« Gerlach zeigte auf einen kleinen Holzsteg, der kaum einen Meter über die Uferböschung hinausragte und von dem aus gerne Enten gefüttert wurden. Die Stelle war bekannt dafür, dass hier öfter Leute ins Wasser fielen. Mehrfach hatte die Kieler Zeitung deshalb – und weil der Steg die Uferanlagen verschandele – gefordert, ihn abreißen zu lassen, was die Kieler Neuesten Nachrichten zu der Feststellung veranlasste, dass die Artikel der Kieler Zeitung regelmäßig mehr Bürgern Schmerzen zufüge und dass ihr Verlagsgebäude das Stadtbild stärker verunstalte als der Steg. Tatsächlich waren nur selten Menschen durch den Steg zu ernsteren Schäden als einem Schnupfen gekommen, außer im Winter, wenn die Kinder sich Kufen unter die Stiefel schnallten und von der besonderen Brüchigkeit des Eises rund um den Steg überrascht wurden.
»Auf den Planken waren Wasserspritzer, und dieser Schwachkopp von Wachtmeister hatte nichts Besseres zu tun, als mit einer nassen Bürste alle Spuren wegzuwischen«, seufzte Gerlach.
Wie auch Rosenbaum war er technisch und naturwissenschaftlich sehr interessiert. Als er gegen Ende des Krieges für einige Wochen bei den Doughboys interniert gewesen war, hatte er von neuen Methoden der amerikanischen Bundespolizei gehört, mit denen forensische Fachleute aus der Form von Blutspritzern einen konkreten Handlungsablauf rekonstruieren konnten. Er wusste zwar nichts Näheres, aber es hatte ihn inspiriert. Und jetzt blieb ihm nur, dem Schupo böse hinterherzuschauen.
»Dann fragen wir mal die Leiche«, sagte Rosenbaum.
Sie gingen hinüber zu dem toten Mädchen. Gerlach zog pietätvoll das Tuch zurück und legte den toten, nassen Körper eines hübschen jungen Fräuleins frei, schwarzes Haar, weiße Haut, sittsames Tageskleid, ein wenig wie das schlafende Schneewittchen.
Rosenbaum drückte mit der linken Hand den Unterkiefer des Mädchens hinunter, steckte zwei Finger der rechten Hand tief in ihren Mund, zog sie wieder hinaus und wischte sie mit seinem Taschentuch trocken. So hatte er es sich bei Professor Ziemke, dem Kieler Gerichtsmediziner, abgeschaut. Der Luxus, dass ein Arzt am Tatort erschien, um seine ersten medizinischen Untersuchungen durchzuführen, so wie Rosenbaum es bei der Kieler Polizei eingeführt hatte und wie es in den letzten Jahren vor dem Krieg üblich gewesen war, dieser Luxus gehörte der Vergangenheit an. Die Zeiten waren schlecht, die Verbrechensrate hoch, das Personal der Gerichtsmedizin dezimiert, der Kommissar und sein Assistent mussten die meiste Tatortarbeit selbst erledigen.
»Noch warm«, sagte er. »Der Todeseintritt ist allenfalls ein bis zwei Stunden her.«
Er strich die Ärmel des Mädchens hoch, betrachtete die Handgelenke und die Arme, schob die Rüschen am Kragen zur Seite, betrachtete den Hals. Blaue Flecken und frische Abschürfungen waren zu finden, Kampfspuren und Würgemale.
»Gestoßen, nicht gefallen«, sagte er. »Aber warum schwamm sie nicht an Land?«
»Sie konnte vielleicht nicht schwimmen. Oder sie war vom Würgen bereits bewusstlos. Oder verlor das Bewusstsein durch den Kälteschock.«
»Zeugen?«
»Nur die beiden Lausbuben dort hinten, die haben sie gefunden.« Gerlach zeigte auf zwei Jungen, die verängstigt und kreidebleich am Rande der Uferböschung standen und von einem Wachtmeister am Fortlaufen gehindert wurden. »Sie dachten zunächst, ein Sack läge im Wasser, und warfen mit Steinen danach. Dann erkannten sie eine Hand. Sonst keine Zeugen.«
Xavier Kunz traf ein. Er stellte seinen Fotoapparat und die schwere Ausrüstung ab und begrüßte die beiden Ermittler. Kunz war früher Maler, Kunstmaler – er selbst sagte Kunzmaler – gewesen, hatte damit aber kaum etwas verdient. Anfangs pflegte er einen Stil, bei dem die Nasen nie zwischen den Augen saßen, sondern irgendwo anders am Körper, und als Nasen oft nur schwer zu erkennen waren. Das hatte natürlich tiefe Bedeutung, doch in Kiel konnte er damit nichts werden. In Berlin, Düsseldorf oder München ja, aber in Kiel sicher nicht. Dann verlegte er sich auf einen naturalistischen Stil und malte Wälder, Hirsche und Segelschiffe. Diese Werke konnte er zwar verkaufen, jedoch nur zu einem Spottpreis, weil seine Kundschaft nicht zahlungskräftig war. Wer in Kiel Geld hatte, fuhr nach Berlin, Düsseldorf oder München und kaufte Bilder mit Nasen, die man nicht erkennen konnte. Irgendwann gab er auf und suchte sich etwas anderes. Als nach dem Krieg die lange vakanten Stellen des Polizeifotografen und des Polizeizeichners neu ausgeschrieben wurden, war er der einzige Kandidat, der sich auf beide Stellen bewarb, ein für den Stadtkämmerer unerwartet glücklicher Umstand. Kunz wurde eingestellt. Was er zunächst verschwiegen hatte, war, dass ihm jede Erfahrung mit Fotoapparaten fehlte. Bei seinen ersten Polizeifotos waren die Motive oft nahezu schwarz oder fast weiß, oder die Nasen saßen oft nicht zwischen den Augen, ganz so wie bei seinen früheren Gemälden, nun jedoch nicht gewollt, sondern wegen unbeabsichtigter Unter-, Über- oder Doppelbelichtung. Doch Kunz konnte die missglückten Fotos durch gelungene Zeichnungen ersetzen und so seine Anstellung retten – nicht zuletzt wegen der Fürsprache des Kämmerers. Inzwischen war er in der Lage, zuverlässig brauchbare Fotografien anzufertigen. Die Ermittler gingen zur Seite und ließen ihn seine Arbeit machen.
Rosenbaum schaute zu den beiden Lausbuben hinauf. Hinter ihnen stießen die Fährstraße, die Bergstraße, der Lorentzendamm und der Martensdamm aufeinander. Rechts lag die »Ki-Spa-Leih-Ka«, wie die Einheimischen mundfaul ihre Kieler Spar- und Leihkasse nannten, vis-à-vis das Oberlandesgericht, links dahinter das Kaiserliche Kanalamt, an dessen Eingangsportal das »Kaiserliche« schamhaft überklebt worden war, obwohl eine Umbenennung offiziell noch gar nicht stattgefunden hatte und auch der Kaiser-Wilhelm-Kanal – der einzige Grund für die Einrichtung des Kanalamtes – noch immer Kaiser-Wilhelm-Kanal hieß. Hier war eine durchaus belebte Gegend, und niemand sollte etwas gesehen und keine Hilferufe gehört haben? Jetzt war es sieben Uhr abends, bereits dunkel, aber zur Tatzeit musste es noch hell gewesen sein, und niemand hatte etwas mitbekommen?
»Wissen wir, wer sie ist?«
»Das hier hatte sie bei sich.« Gerlach hob eine Handtasche auf, die neben der Leiche lag. »Da ist eine Wohnbescheinigung des Oberlyzeums drin.«
»Das Lehrerinnenseminar? Das ist doch hier irgendwo in der Nähe.«
»Gleich dahinten, am Blocksberg, keine fünfhundert Meter von hier.«
Sie winkten einen der verblieben Wachtmeister, die in vorsichtiger Entfernung um sie herumstanden, zu sich, trugen ihm auf, die Leiche zur Gerichtsmedizin transportieren zu lassen, und machten sich zu Fuß auf den Weg zum Oberlyzeum.
Seit einem Jahr durften die Frauen an politischen Wahlen teilnehmen und ihre Stimmen wurden sogar mitgezählt. Etliche Jahre früher, 1908, noch tief im Kaiserreich, hatte es sogar bereits eine Gesetzesreform gegeben, nach der Knaben- und Mädchenschulen prinzipiell gleichgestellt worden sind.
Für Jungen gab es seit Längerem neben den Gymnasien auch Realgymnasien