Aus der Sicht der Fremden. Maria von Hall

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Aus der Sicht der Fremden - Maria von Hall

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mit siebzehn Jahren schon im Büro des Vaters als Zeichnerin gearbeitet. Jede Woche drückte sie mir fünf Zloty in die Hand und ich musste die Englischlehrerin in der Stadt aufsuchen. Ich bin aber nicht sprachbegabt, für mich war Englisch wie ein Gesang. Der Traum meiner Schwester war, dass wir uns auf Englisch unterhalten können, wenn wir erwachsen sind.

      Im Jahre 1948 bot man auf dem Schloss in Bielitz einen Malkurs an und meine Schwester meldete sich dafür an. Sie wollte unbedingt daran teilnehmen. Der Professor, ein älterer Herr, kam aus Krakau und war Jude. Beim ersten Zusammenkommen der Teilnehmer wollte er die Interessierten erstmal testen. Er stellte verschiedene Gegenstände auf das Pult und jeder konnte sich einen aussuchen, den er malen würde. Da ein freies Thema auch erlaubt war, zeichnete meine Schwester ein schlafendes Kind. Sie zeichnete nur den Kopf mit lockigem Haar und die Hände. Als der Professor hinter Toni stand und das Kind betrachtete, sagte er leise, aber voller Wut: „Das Kind hat germanische Gesichtszüge!“ Die arme Toni war so tief getroffen, dass sie aufstand und schweigend den Saal verließ. Sie ist nie wieder zu dem Malkurs gegangen.

      Tonis Zeichnung

      Meine Schwester Toni im Alter von 60 Jahren, München 1991

      Die Flüchtlinge. Ein Werk von Toni,das sie im Alter von 65 Jahren angefertigt hat.

      ***

      Was unsere Gesundheit betraf, war der Krieg an uns Kindern doch nicht spurlos vorübergegangen. Ich habe nach dem Kriegsende am ganzen Körper große, braune Geschwüre bekommen, sogar hinter den Ohren. Gleich nach der Friedensproklamation ist meine Mutter mit mir nach München gefahren, um Hilfe zu suchen, obwohl sie noch nie in dieser Stadt gewesen war. Dort wurden wir von dem kaputten Tor des Bahnhofs empfangen und unser Zug konnte auf dem einzigen intakten Gleis einfahren. Alle anderen Gleise waren beschädigt, sie waren nach oben gekrümmt, was mich in Staunen versetzte, und jede Wand, jedes Gebäude wies Einschussspuren auf. Das Gesamtbild war für uns umso erschreckender, weil wir bis dahin die Folgen des Krieges, des Kampfes, in einer großen Stadt noch nie aus der Nähe gesehen hatten. Es war in meinem Alter von fünf Jahren überhaupt das erste Mal, dass ich so eine große Stadt sah. Alles kam mir unwahrscheinlich groß vor. Das breite Trottoir, auf dem kein Mensch zu sehen war, die breite und unendlich lange Straße, auf der kein Fahrzeug fuhr! Überall sah man nur Leere und in der Ferne die zahlreichen hohen und beschädigten Häuser. Der Bürgersteig an der breiten Doppelstraße schien kein Ende zu haben, aber meine Mutter, die mich an der Hand festhielt, ging einfach entschlossen weiter, bis wir bei einem großen Gebäude angekommen waren. Dieses war auch leer. Keinen Menschen haben wir darin gesehen. Wir haben viele Stockwerke mit langen Korridoren abgesucht, bis wir endlich eine Person angetroffen haben. Es war eine Krankenschwester in Zivil, die gerade von der anderen Seite des Flures hereingekommen war. Nachdem sie erfahren hatte, warum wir da waren, führte sie uns in ein kleines Zimmer, machte einen weißen, schmalen Schrank aus Glas auf und holte ein kleines Fläschchen mit einer grünen Flüssigkeit heraus. Mit dieser hat sie alle meine Geschwüre eingepinselt. Als wir das Krankenhaus verlassen hatten, stand wieder der lange Rückweg durch die Stadt bevor. Wir sind erschöpft am Bahnhof angekommen und mussten wieder lange warten, bis wir mit einem Zug nach Hause fahren konnten. Die einfache Behandlung wirkte nach einer kurzen Zeit, die Geschwüre sind verheilt und es sind nicht mal Narben zurückgeblieben.

      ***

      Kurz vor Kriegsende, das war noch zu unserer Zeit in Bayern, sind meine beiden Brüder, damals sechs und elf Jahre alt, mit dem 16-jährigen Sohn eines Bauern mit einem Leiterwagen und einem Pferd hinaus auf eine Wiese gefahren.

      Plötzlich hörten sie das Brummen von Motoren am Himmel, dicht gefolgt vom mechanischen Geräusch des Maschinengewehrfeuer. Vom Boden her donnerten auch plötzlich Geschütze und leuchtende Geschosse zischten in den Himmel, den Fliegern entgegen. In diesem Geschosshagel und Lärm standen die drei Buben völlig schutzlos, mitten auf der Wiese! Mein jüngerer Bruder Karl erlitt in diesem Augenblick einen Schock. Er fing an, sich wie in Trance um die eigene Achse zu drehen und lief plötzlich schreiend los. Dabei fiel er in einen nahe gelegenen Bewässerungsgraben. Er wurde mit großer Mühe von den beiden anderen Buben aus dem Graben gerettet. Ganz in der Nähe, am Rande der Wiese, war ein Schützengraben ausgehoben und mit Sandsäcken und Tarnnetzen befestigt worden. Von dort kamen der Geschützdonner und die leuchtenden Geschosse, die himmelwärts jagten. Die Soldaten in der Stellung entdeckten die drei Buben und winkten ihnen zu, damit sie nicht auf dem offenen Feld stehenblieben. Die drei Jungen in ihrer Angst und Panik nahmen jedoch nichts weiter wahr als den Lärm und die Gefahr um sich herum. Letztendlich entdeckte einer von ihnen die winkenden Soldaten und sie liefen auf die Gräben zu. Dank der Hilfe der Soldaten überlebten alle den Angriff.

      Das erlebte Trauma löste bei meinem jüngsten Bruder Herzbeschwerden aus. Er musste sein ganzes Leben lang Herzmedikamente einnehmen. Nachdem wir nach dem Krieg wieder in Bielitz angekommen waren, wurde er eines Morgens bewusstlos. Er kam in die Küche und kippte plötzlich um. Karl und ich haben jahrelang jede Nacht im Schlaf geschrien. Ich erinnere mich, wie mein Bruder noch mit 16 Jahren so unruhig geschlafen hat, dass er jede Nacht aus dem Bett fiel. Ich musste in der Früh durch sein Zimmer gehen und fand ihn meist auf dem Boden schlafend. Was mich persönlich betrifft, so wachte ich bis in meine Dreißigerjahre hinein nachts oft noch mit Geschrei auf.

      Mein Bruder Karl im Alter von 16 Jahren, Swiebodzin 1955

      Kurz nach unserer Rückkehr nach Bielitz erkrankte mein älterer Bruder schwer. Meine Eltern ließen sofort einen Arzt namens Dulawa rufen, der in der Stadt schon vor dem Krieg sehr bekannt und hochgeschätzt war. Er war immer zu meinen erkrankten Geschwistern gerufen worden. Der Arzt war Jude und hatte glücklicherweise den Krieg überlebt. Trotz seiner direkten Art mit Menschen umzugehen, war er in der Stadt beliebt.

      Doktor Dulawa konnte auch diesmal meinem Bruder helfen und nach der Heilung war es ihm sogar gelungen, ihn durch seine alten Verbindungen in einem Sanatorium unterzubringen. Dort ging seine Genesung schnell voran und mein Bruder schoss förmlich in die Höhe.

      Jetzt nach dem Krieg haben meine Eltern den Arzt oft eingeladen, um über das Erlebte im Krieg zu sprechen. Während eines Besuches beklagte sich meine Mutter, dass wir im Krieg alles verloren haben. Damit meinte sie die Firma meines Vaters und unseren ganzen Besitz …

      Der Arzt erwiderte sichtlich mit sich ringend;

      – Was sagst du da …?

      – Alles verloren?

      – Nichts hast du verloren! Du hast deinen Mann und alle deine Kinder behalten!

      – Ich habe alles verloren!

      – Meine ganze Familie wurde in Auschwitz umgebracht! Nur ich habe überlebt …

      Das Haus in der Mackensenstraße 11

      Nach unserer Rückkehr in das Haus in der Mackensenstraße haben wir dort kein einziges bekanntes Gesicht angetroffen. Nur die polnische Hausmeisterfamilie, die

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