Trotzdem: Was uns zusammenhält. Группа авторов
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Bonn: die postnationale Demokratie?
Das Karlsruher Urteil band die Verfassungsorgane, aber nicht die Gesellschaft und nicht die Parteien. Seit Beginn der 1980er-Jahre mehrten sich links der Mitte die Stimmen, die einen Verzicht auf das Staatsziel der Wiedervereinigung forderten. Im Januar 1981 regte der Publizist Günter Gaus kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik in der DDR in einem Interview mit der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT an, im Umgang mit der DDR künftig tunlichst auf den Begriff »Nation« zu verzichten.10 Gaus kam damit der SED weit entgegen, die seit 1970 die These von der Herausbildung einer neuen »sozialistischen Nation« in der DDR und damit von der Existenz von zwei deutschen Nationen vertrat. Das Theorem der »Binationalisierung« fand in der Bundesrepublik nur bei wenigen Politologen und Historikern Anklang, wohingegen das von dem Bonner Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher erstmals 1976 formulierte Verdikt von der Bundesrepublik als »postnationaler Demokratie unter Nationalstaaten« auf verbreitete Zustimmung stieß.11
Die erste Partei, die dem Ziel der Wiedervereinigung eine klare Absage erteilte, waren die 1979 gegründeten Grünen. Aber auch unter den Sozialdemokraten und unter linksliberalen Intellektuellen gab es viele, die in den Ruf nach der Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates nicht mehr einstimmen mochten. Nach dem Anteil, den das Deutsche Reich an der Auslösung der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts hatte, wollten sie Europa eine neuerliche deutsche Machtzusammenballung in der Mitte des Kontinents nicht mehr zumuten.12 1988 meinte Oskar Lafontaine, damals Ministerpräsident des Saarlandes und stellvertretender Vorsitzender der SPD, in seinem Buch Die Gesellschaft der Zukunft, gerade weil die Deutschen mit einem pervertierten Nationalismus schrecklichste Erfahrungen gemacht hätten, sollte ihnen der Verzicht auf Nationalstaatlichkeit leichter fallen als anderen Nationen: »Aufgrund ihrer jüngsten Geschichte sind die Deutschen geradezu prädestiniert, die treibende Rolle in dem Prozess der supranationalen Vereinigung Europas zu übernehmen.« 13 Knapp vier Jahrzehnte nach der Gründung der Bundesrepublik hatte sich im Westen Deutschlands so etwas wie eine posthume Adenauer’sche Linke herausgebildet: eine Ironie der deutschen Nachkriegsgeschichte, an der der erste Bundeskanzler vermutlich seine Freude gehabt hätte.
In den 1960er-Jahren rückte der Holocaust in den Mittelpunkt der deutschen Beschäftigung mit dem »Dritten Reich«. Bundespräsident Richard von Weizsäcker nannte den 8. Mai 1945 den »Tag der Befreiung … von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft«.
Die westdeutsche Debatte über Nation und Nationalstaat konnte sich nur in einer Gesellschaft entwickeln, die gelernt hatte, selbstkritisch mit ihrer Geschichte umzugehen. In den ersten eineinhalb Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die Bundesbürger nach dem Urteil des Philosophen Hermann Lübbe in einem »kommunikativen Beschweigen« der jüngsten Vergangenheit geübt: Vom eigenen »Mitmachen« und dem der Nächsten in der Zeit des Nationalsozialismus wurde zunächst nicht gesprochen.14 1961 löste das Buch Griff nach der Weltmacht des Hamburger Geschichtsprofessors Fritz Fischer einen Historikerstreit über die Rolle der deutschen Machteliten vor dem und im Ersten Weltkrieg aus.15 Damit begann eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Kontinuität nationalistischer und imperialistischer Politik im Deutschland des 20. Jahrhunderts. In die erste Hälfte der 1960er-Jahre fielen der Jerusalemer Eichmann-Prozess, der Frankfurter Auschwitz- und der Düsseldorfer Treblinka-Prozess, die den Holocaust in den Mittelpunkt der deutschen Beschäftigung mit dem »Dritten Reich« rückten. Anlässlich des vierzigsten Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa nannte Bundespräsident Richard von Weizsäcker, ein aus der CDU hervorgegangener Politiker, den 8. Mai 1945 einen »Tag der Befreiung«: »Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.« 16
Der Verzicht auf die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates war eine mögliche, aber keine zwingende Folgerung aus der deutschen Geschichte vor 1945. Eine solche Verzichtleistung fiel Westdeutschen leichter als Ostdeutschen. Die Bürger der Bundesrepublik hatten unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs in viel geringerem Maß leiden müssen als ihre Landsleute in der DDR. Im Gegensatz zu diesen genossen sie alle Vorteile einer freiheitlichen Demokratie und einer florierenden Marktwirtschaft. Problematischer noch war der Rückschluss von Deutschland auf Europa, den manche Intellektuelle und Politiker der Linken, unter ihnen Oskar Lafontaine, zogen. Die Deutschen hatten ihren ersten Nationalstaat zugrunde gerichtet, daran gab es nichts zu deuteln. Daraus ergab sich aber noch kein Recht, den Nationalstaat schlechthin für obsolet zu erklären, anderen Nationen also das Recht auf ihren Staat und damit auf nationale Selbstbestimmung abzusprechen. Es war der Umschlag von Selbstkritik in Anmaßung, der die europäischen Nachbarn irritieren musste – sofern sie denn von der westdeutschen Debatte der 1980er-Jahre Notiz nahmen.
Es waren nicht nur Angehörige der politischen Elite, die im letzten Jahrzehnt der »alten« Bundesrepublik mit dem Begriff der deutschen Nation und der Idee eines deutschen Nationalstaates haderten. Ein Drittel der Bundesbürger bejahte, zwei Drittel verneinten, dass die DDR für sie Ausland sei.
Es waren nicht nur Angehörige der politischen Elite, die im letzten Jahrzehnt der »alten« Bundesrepublik mit dem Begriff der deutschen Nation und der Idee eines deutschen Nationalstaates haderten. Eine Umfrage im Juli 1986 erbrachte, dass 37 Prozent der westdeutschen Bevölkerung unter »Nation« die Bundesrepublik und 35 Prozent die Bundesrepublik und die DDR zusammen verstanden. Auf die Frage, ob die Deutschen beider Staaten ein Volk oder zwei Völker seien, entschieden sich im Frühjahr 1978 78 Prozent für die erste und 21 Prozent für die zweite Lesart. Ein Drittel der Bundesbürger bejahte, zwei Drittel verneinten, dass die DDR für sie Ausland sei.
Bei den jüngeren Deutschen im Westteil des Landes sahen die Proportionen allerdings anders aus. Von den Bundesbürgern im Alter von 14 bis 29 Jahren fühlten sich nur 65 Prozent als Angehörige eines deutschen Volkes. Immerhin 34 Prozent der jungen Bundesbürger gingen von der Existenz zweier deutscher Völker aus. Während in der Gruppe der über 60-Jährigen zwischen 1967 und 1987 im Durchschnitt nur 15 Prozent die DDR als ausländischen Staat empfanden, war es bei den jungen Bundesbürgern gut die Hälfte. Eine Auswertung der entsprechenden Daten im Deutschland Archiv mündete in die nüchterne Schlussfolgerung, die DDR werde von einem großen Teil der jüngeren Generation als fremder Staat mit einer anderen Gesellschaftsordnung und nicht mehr als Teil Deutschlands wahrgenommen: »Dies führt zu einem Abbau des Bewusstseins einer nationalen Gemeinsamkeit und macht stetiger Entfremdung Platz.« 17 Veröffentlicht wurde die Untersuchung im Oktober 1989 – im Monat vor dem Fall der Berliner Mauer.
1990: Uneinig-einig Vaterland
Fünfeinhalb Wochen nach dem Mauerfall hielt die SPD in Berlin ihren Bundesparteitag ab. Am 18. Dezember 1989, seinem 76. Geburtstag, sprach der Ehrenvorsitzende der ältesten deutschen Partei, der frühere Bundeskanzler Willy Brandt, in seiner Rede einen Satz aus, der nur bei einem Teil der Delegierten Beifall fand: »Noch so große Schuld einer Nation kann nicht durch eine zeitlos verordnete Spaltung getilgt werden.« 18
Brandts Bemerkung richtete sich nicht nur gegen einen Kritiker eines deutschen Nationalstaates wie Oskar Lafontaine – den noch unerklärten Kanzlerkandidaten für 1990 –, sondern auch gegen einen prominenten Gastredner des Parteitags, den Dichter Günter Grass, der auf dem Kongress eine leidenschaftliche Rede gegen die Wiedervereinigung hielt. Ein gutes Dreivierteljahr später war Deutschland wiedervereinigt. Die historische Bedeutung